In welchem Land leben wir? In welcher Zeit?
Ein Mädchen verschwindet aus der Klasse. Die Nachbar_innen sind plötzlich weg. Der freundliche Mensch, den man bis jetzt täglich gesehen hat, ist nicht mehr da …
Das Land heißt ja Österreich, aber in welcher Zeit leben wir jetzt? Solche Erfahrungen stammen nicht aus der dunklen Vergangenheit, der Schreckenszeit des 20. Jahrhunderts, sie häufen sich hier und jetzt – heute im 21. Jahrhundert. Und es wird immer enger, dafür bürgen die bestehenden und noch mehr die geplanten „Verschärfungen“ im „Fremdenrecht“.
Die zunehmenden Abschiebungen lassen sich in keinster Weise rechtfertigen oder schlüssig erklären. Der bürokratische Aufwand, die enormen Kosten stehen in keinem Verhältnis zu „Ersparnissen“ im Staatshaushalt. Die sich verbreitende Verunsicherung trägt sicherlich nichts zu einem gemeinschaftlichen Leben bei. Welche Interessen stecken wirklich hinter diesen menschenverachtenden Repressionen?
Im Zuge meiner Erfahrungen mit Grenzüberquerungen bei einer Zugreise von Linz nach Istanbul und zurück, entstand bei mir der Eindruck, dass die Grenzsicherung im umgekehrten Verhältnis zur Stabilität im jeweiligen Land steht. Schon seit längerer Zeit sehen wir, dass jede nationalstaatliche Politik in der globalisierten Welt zunehmend impotent und bedeutungslos wird. Bestimmungen werden zugunsten global agierenden Konzernen beschlossen, lokal lebende Menschen werden gezwungen, sich damit abzufinden. Versucht die österreichische Politik also die eigene Bedeutungslosigkeit dadurch zu kaschieren, dass sie gerade jenen Menschen verfolgt, die sich am Wenigsten wehren können?
Das sinnlose Geplapper von wegen „Integration“, alle Versuche, Menschen in „guten“ oder „schlechten“ Ausländer_innen aufteilen zu wollen, sind lediglich Ablenkungsmanöver. Angesprochen soll scheinbar eine zunehmend schwindende Mehrheit (?), die das gute Leben in einem funktionierenden Sozialstaat seit ca. 50 Jahren genossen hat. Diese Art zu leben, die von Vornherein recht unstabil vor allem auf der unbezahlten und nicht anerkannten Reproduktions- und Dienstleistungsarbeit von Frauen aufgebaut wurde, wird nun tatsächlich bedroht. Diese Bedrohung auf Menschen, die ebenso leben wollen, zu projizieren, zeugt nur von der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit der Politik. Es mag sein, dass die wenigen Menschen, die heute noch so leben können und diese Bedrohung spüren, solche Schuldzuweisungen (noch) glauben (wollen). Es gibt aber immer mehr Menschen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen prekarisiert werden, die sich immer weniger auf den Sozialstaat verlassen können. Das heißt, es gibt immer weniger Menschen, die noch einen Grund hätten, dieser politischen Ausrede Glauben zu schenken. Somit wird der Staat und diejenige, die für diesen Staat politische Verantwortung tragen, immer unglaubwürdiger.
Die vielfach beschwörenen „Wirtschaftskrisen“ in allen westlichen Industrieländern wurden nicht durch die Menschen verursacht, die auf der ganzen Welt unterwegs sind/sein müssen. Sie haben damit zu tun, dass Produktion und Verbrauch abgekoppelt wurden, dass Profit über Gemeinschaft gestellt wurde, dass Finanztransaktionen immer fantasievoller und richtig märchenhaft werden. Global agierende Konzerne haben kein Interesse daran, einen gerechten Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, weil sie in keiner Gemeinschaft verankert sind. Spekulationen in Kombination mit überzogenen Konsumvorstellungen führen zu einer Abwanderung aus den Städten, die dadurch an Lebensqualität verlieren. „Mobilität“ ist teuer. Doch die politisch Verantwortlichen, die inzwischen mehrheitlich aus der Manager_innenschicht kommen, schaffen es nicht einmal, die eigenen Kontos im Überblick zu behalten, geschweige denn, die realen Problemen der Prekarisierten zu begreifen. Also greifen sie auf bewährte Ablenkungsmanöver zurück: Ein Sündenbock muss her.
Diese menschenverachtende Abschiebungspraxis, diese endlosen Schikanen mit unerfüllbaren Anforderungen im wuchernden „Fremdenrecht“, dieser armselige Umgang mit Menschen – damit werden überhaupt keine echten Probleme gelöst. Das Leben aller wird dadurch nur schlechter.