Reinhold Schachner kämpfte sich durch das Buch „Entischert“ von Tom Holert und Mark Terkessidis.
Der Ausdruck Krieg habe in den letzten Jahrzehnten einen Bedeutungswandel vollzogen, der nicht länger ohne Aspekte wie Freizeit-, Unterhaltungsindustrie, New Economy oder aber auch Gegenkultur erfasst werden könnte. Und umgekehrt würde das Militärische immer mehr zum Alltag werden, meinen Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem neuen Buch „Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert“.
Apocalypse Now, ein Bordell in der vietnamesischen Stadt Ho-Chi-Minh-City, in und vor dem einheimische Frauen ihren Körper in erster Linie ausländischen Gästen, insbesondere aus dem Westen, anbieten. Apocalypse Now, der wohl bekannteste US-amerikanische Vietnam-Film, der die einprägsame Szene beinhaltet, wo Richard Wagners Ritt der Walküren die Hubschrauberangriffe auf ein Dorf begleiten. Diese Szene war so einprägsam, dass im Zuge der Invasion des Inselstaates Grenada durch US-amerikanischer Truppen die Hubschrauberattacken nicht ohne Wagnermusik vonstatten gingen.
Diese beiden Apokalypsen sind für die Autoren Holert/Terkessidis, die sich in der Tradition der Cultural Studies positionieren, Beispiele für die Vernetzung der Alltagskultur des Westens mit den „neuen Kriegen“, ein Begriff den sie von der Politikwissenschafterin Mary Kaldor übernehmen, welcher kurz gefasst die Verteidigung einer Lebensweise bedeutet. Das vernetzte Produkt wäre nach der These der Autoren der „massenkulturelle Krieg“ in den westlichen Regionen. Das Pendant in den Kriegsgebieten außerhalb des Westens wäre der „Krieg als Kultur der Massen“. Also, Entsichert ist der Versuch, zum Beispiel ein besonderes Bordell in Vietnam, eine Filmsequenz eines Hollywoodfilms und real stattgefundene militärische Aktionen auf einen gemeinsamen Nenner mit Massenkultur, im Sinne der Konsumwelt, des Infotainments in Politik und Nachrichtenberichterstattung und des von Life-Style-Propaganda und New Economy vorgegaukelten Weges zu einer neuen Subjektivierung, festzuhalten. Und dieser Nenner heißt Militarisierung.
Um ihre Thesen zu belegen, spannen Holert/Terkessidis einen riesigen Bogen über massenkulturelle Phänomene, die oberflächlich betrachtet keine Tuchfühlung mehr mit militärischen Auseinandersetzungen vorweisen, wie z. B. die steigenden Verkaufszahlen von Geländewagen, bis hin zu ehemaligen Kriegsschauplätzen, wie Ex-Jugoslawien. Durch dieses breit angelegte Unternehmen haben die Autoren Mühe, eine klar und distinkt gezogene Argumentationslinie ohne allzu große Abschweifungen durchhalten zu können, welche die einzelnen Abschnitte zu einem Gefüge formen würden.
Die Methode von Holert/Terkessidis besteht darin, Reportagen mit wissenschaftlichen Ansätzen zu verknüpfen. In sechs Kapiteln führen sie zu Schauplätzen, die quasi Synonyme für Gewalt oder Krieg darstellen; sei es Ground Zero, sei es das bayrische Bad Reichenhall, wo im Jahre 1999 ein 16-Jähriger Amok lief. Die Autoren beabsichtigen nicht, mit neuen Analysen aufzuwarten, sondern Querverbindungen herzustellen, Parallelen herauszuschälen, die zeigen sollten, dass der klassischen Auffassung vom Begriff Krieg eine Absage zu erteilen sei, denn die Vorstellung von zwei Armeen, die sich nationalistisch/ideologisch motiviert gegenüberstehen, ist seit dem Vietnamkrieg obsolet. Zudem würden unter der Oberfläche des Alltags dispositive Kriegszustände in globalen Dimensionen immer stärker zunehmen.
Holert/Terkessidis wollen mit ihrem neuen Buch Entsichert mitnichten eine Paranoia erzeugen oder verstärken, sondern die Militarisierung der Gesellschaften mit Fallbeispielen belegen und übersetzen darüber hinaus komplexe Theorien von DenkerInnen, wie z.B. von Jacques Lacan oder Michel Foucault, in eine sehr verständliche Sprache. Doch gesellt sich zu dieser hervorzuhebenden theoretischen Leistung der Autoren ein zu ausgeprägter Sinn für das Unterstreichen ihrer Thesen des Krieges als massenkulturelles Phänomen mittels Beispielen. Mitunter wirken diese etwas weit hergeholt oder banal, doch kann man Holert/Terkessidis nicht abstreiten, sie hätten sich nicht in der Schublade mit der Aufschrift Curiosa bedient. So führen sie die Bemühungen des US-Militärs an, den ehemaligen Diktator Panamas, Manuel Noriega, welcher sich in der vatikanischen Botschaft verschanzte, von dort herauszutreiben, und zwar mit keinem geringeren Mittel, als über um die Botschaft herum installierte Lautsprecher den Song „Welcome to the Jungle“ von Guns’n’Roses ohrenbetäubend abzuspielen!
Reinhold Schachner
Tom Holert/Mark Terkessidis: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002,