Um miteinander in Austausch treten zu können, müssen wir vorurteilsfrei aufeinander zugehen. Carmen Bayer stellt Ansätze dafür vor – ausgehend von zwei Ideen, die sich für offene Zugänge und prozessorientiertes Handeln stark machen.
Nicht erst seit der Pandemie tendieren wir dazu, abweichende Wahrnehmungen anderer kleinzureden. Anstatt die Wahrnehmung von Anderen zunächst möglichst vorurteilsfrei und neugierig anzuhören, verschließen wir uns beinahe schon reflexartig, wenn wir auf konträre Ansichten stoßen. Diese Handlungsweise kann durchaus nachvollziehbar sein, wenn sie der Wahrung der eigenen Grenzen dient. Auf lange Sicht ist diese Strategie jedoch problematisch. Die Flut an Informationen und der Meinungsaustausch innerhalb der eigenen Social Media-Blase haben diese Perspektive weiter verschärft. Die Pandemie fungiert dabei als Vergrößerungsglas bestehender Probleme: In Fragen zu Maßnahmen wie Lock-Down oder Impfen schleicht sich die Abgrenzung gegenüber der anderen Meinung zunehmend auch im persönlichen Umfeld ein. Was folgt, sind Kontaktabbrüche oder Thementabus. Die Mauern sind hochgezogen, aber was nun? Werden wir sie irgendwann wieder einreißen können oder bilden sie das Fundament neuer Polarisierungen? Komplexe Themenfelder gibt es genug.
Verlernen
Ist es möglich, diese Entwicklungen zu bremsen, vielleicht sogar im Streit über die „echte Wahrheit“ zerbrochene Beziehungen wieder aufzubauen? Hans Holzinger, pädagogischer Leiter der Robert‐Jungk‐Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg, plädiert im Gespräch darüber für ein Verlernen der vorschnellen Urteile. Darin liege der erste Schritt, um wieder aufeinander zuzugehen und sich auf verbindende Elemente zu fokussieren, anstatt das Spaltende in den Mittelpunkt zu stellen.
Hinzu kommt, dass wir im gesellschaftlichen Diskurs dazu angehalten werden, zu jedem Thema Stellung zu beziehen. Das ist in Anbetracht der Komplexität vieler gegenwärtiger Fragestellungen ohnehin schwer möglich. Nach Holzinger sind wir von dem Strom an Informationen oftmals überfordert. Dieser Überforderung entspringe der Rückzug ins Private, mit dem Fokus auf das Selbst. Anstatt sich mit gegenwärtigen Problemen auseinanderzusetzen, erscheint es angenehmer, die vorhandenen Ressourcen in die eigene (berufliche) Optimierung zu investieren. Für ehrenamtliches Engagement oder zivilgesellschaftlichen Aktivismus bleibt kein Platz mehr. Die hierfür benötigte Zeit wie auch die Offenheit für die Sorgen anderer scheinen im permanenten Stress der vergeblichen Selbstoptimierung verloren gegangen zu sein.
„Betroffene zu Beteiligten machen“
Eine Idee, wie das Verlernen von Vorurteilen gelingen kann, liegt im partizipativen Zugang von Zukunftswerkstätten. Ein Konzept mit dem Holzinger arbeitet. Ziel ist es, „Betroffene zu Beteiligten zu machen“. Dabei wird kooperativ nach Lösungen oder neuen Ansätzen gesucht. Beginnend mit einer Kritikphase, in welcher alle Betroffenen zu Wort kommen und ihre Sicht der Dinge darstellen, geht die Gruppe nach der Sammlung der Probleme über zur nächsten Etappe, der Utopiephase. Hier gilt es, sich gedanklich von der Kritik zu lösen und frei von Grenzen nach alternativen Wegen zu suchen. Dank der didaktischen Anleitung des/der Moderierenden ist es möglich, Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten in Austausch zu bringen. Denn über allem steht das gemeinsame Ziel, den Ist-Zustand zu verbessern. Womit die Zukunftswerkstatt die letzte Station erreicht hat: die Realisierungsphase. Die Teilnehmer*innen eruieren nun, welche der utopischen Lösungen für das besprochene Thema realistisch und sinnvoll umsetzbar sind.
Neu(es) Lernen
Einen partizipativen Ansatz im Umgang mit vorschnellen Urteilen wagt auch das Mozarteum in Salzburg. Das Masterstudium „Applied Theatre – künstlerische Theaterpraxis und Gesellschaft“ bringt Studierende mit Akteur*innen diverser professioneller, kultureller und sozialer Hintergründe zusammen. Im Studium steht die Auseinandersetzung mit Theater und Performance in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten im Fokus. Anstatt also ein Stück über ein Thema oder eine bestimmte Gruppe zu schreiben, werden Vertreter*innen dieser Gruppe aktiv in den Erarbeitungsprozess einbezogen. Studierende können folglich selbst zu Beginn nicht definitiv abschätzen, zu welchem Endergebnis sie der Prozess leitet. Diese Herangehensweise erfordert auch „das Vertrauen darauf, dass die künstlerische Fähigkeit, die man hat, in der Lage ist, aus dem, was immer da kommt, – erstaunt und irritiert – etwas machen zu können, was irgendwie dialogisch ist und zu weiterem führt“, wie Ulrike Hatzer, Studienleitung des Masterstudiums, ausführt. Studierende lernen, sich selbst und ihr Stück zu öffnen und Platz zu machen für die Lebenswelten derer, die sie in die Erarbeitung ihres Themas einbeziehen.
Was in der Zukunftswerkstatt Anwendung findet, geschieht auch in der gemeinsamen Erarbeitung einer Performance der Applied Theatre-Student*innen: Menschen kommen miteinander ins Gespräch. Ein echter Dialog, der nach Gemeinsamem sucht, auch banale Anekdoten zulässt und über den oberflächlichen Austausch eigener Überzeugungen hinausreicht. Im Rahmen einer Projektarbeit entwickelten etwa zwei Studentinnen eine Performance gemeinsam mit drei weißen, biologisch männlich gelesenen Personen aus einer älteren Generation – mit „alten weißen Männern“ also. Diese Zusammenarbeit wurde ein gelungener Prozess, sie „mündete im gegenseitigen Empowerment. Sich selbst ermächtigen, indem man andere nicht erniedrigt, sondern einen Raum für eine Auseinandersetzung bietet und diese auch eingeht“, so Ulrike Hatzer.
Wiedererlernen
Wenn wir uns also fragen, was wir für die Zukunft lernen müssen, so ist es der Austausch miteinander – und zwar über die eigene Blase und Komfortzone hinaus. Wir sollten andere Ansichten akzeptieren und lernen, uns den Meinungen Anderer gegenüber neugierig und vorurteilsfrei zu öffnen. Die Chancen, sich sachlich über eine Fragestellung zu unterhalten, steigen enorm, wenn sich keine*r der Gesprächspartner*innen dem*der anderen überlegen fühlt. So schön und behaglich der Gedanke ans Verweilen in der eigenen Blase ist und so fern wir uns innerhalb der Community von Anderen, die nicht dazugehören, fühlen, all das lässt uns als Gemeinschaft auf der Stelle treten. Ein Hoch also auf die Einigkeit, sich uneinig zu sein und auf die vielen anderen Schnittmengen, die zwischen uns allen bestehen. Besonders in diesen Zeiten: ein Plädoyer fürs Wiedererlernen!
Ausbildung: Zukunftswerkstätten gekonnt anleiten Termin: 6./7. und 20./21.5.2022 Vermittelt werden Basics im Umgang mit Gruppen, der methodische Aufbau und Ablauf von Zukunftswerkstätten, die Anwendung von Elementen der Kreativitätsförderung sowie des gemeinsamen Entwickelns von Projektideen. Der Lehrgang besteht aus zwei Modulen zu jeweils eineinhalb Tagen und inkludiert die Durchführung einer begleiteten Probe-Zukunftswerkstatt bzw. einer Übungswerkstatt in „Realsituation“ durch die Teilnehmenden. Mehr Infos auf jungk-bibliothek.org |
Applied Theatre – künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft Ziel des 2-jährigen Masterstudiums ist es, in Theorie und Praxis mit unterschiedlichen Recherche-, Anleitungs- und Inszenierungsprozessen, auch jenseits gängiger Konventionen, vertraut zu werden. Voraussetzung für die Zulassung ist der Abschluss eines Bachelorstudiums oder eines anderen gleichwertigen Studiums in einem (szenisch-) künstlerischen, pädagogischen oder wissenschaftlichen Fach an einer anerkannten inländischen oder ausländischen postsekundären Bildungseinrichtung. Mehr Infos auf schauspiel.moz.ac.at |