Lernen durch Kultur

Freie Kulturinitiativen leisten – oft nebenbei – wichtige Bildungsarbeit. Wie gestaltet sich diese Arbeit? Wie lässt sie sich begrifflich einordnen? Wie kann sie in der kulturarbeiterischen Tätigkeit gezielt eingesetzt werden? Florian Walter auf Spurensuche zwischen Theorie und Praxis.

Kultur, Bildung und Freie Szene

Die Vermittlung von Wissen an ihre Besucher*innen ist meist kein Hauptanliegen von Kulturinitiativen. Und auch deren Publikum besucht Konzert- oder Theateraufführungen meist eher wegen der Unterhaltung, als mit der Absicht etwas zu lernen. Trotzdem hängen Kultur und Bildung schon begrifflich eng zusammen. In der Kulturwissenschaft wird Bildung oft als „subjektive Seite der Kultur“ bezeichnet. Das bedeutet, dass sich Menschen die ‚Kultur‘ einer Gesellschaft durch ‚Bildung‘ aneignen, vor allem in der Schule (z.B. im Musik-, Kunst- und Sprachunterricht). Besonders deutlich wird die Beziehung zwischen den Begriffen in der ‚kulturellen Bildung‘: Zwar ist das Konzept theoretisch breit lesbar, wenn man es als „Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium der Künste und ihrer Hervorbringungen”[1] versteht. In seiner dominanten Anwendung steckt jedoch meist die konservative Auffassung, Menschen sollten durch Erlernen eines vordefinierten Bildungskanons zu einer bestimmten Form von bürgerlicher „Kultiviertheit“ – etwa allgemeingültigen Werten, Regeln und Normen – erzogen werden. Vermittelt wird, Menschen sollten je nach Bildungsgrad bestimmte Dinge wissen. Selten geht es dabei jedoch um das Aufzeigen von Möglichkeiten durch Ausprobieren.

Genau das hätte aber damit zu tun, was Kulturinitiativen der Freien Szene – etwa Theater-, Musik-, Kabarett- und Literaturveranstalter*innen, auch ohne explizite Vermittlungsabteilung – ihren Aktivist*innen, Mitgliedern und Besucher*innen „mitgeben“: Sie präsentieren partizipative Lebensmodelle. Sie machen lustvolle Aktivitäten erlebbar. Sie zeigen Möglichkeiten eines solidarischen Miteinanders. Sie vermitteln Offenheit in Zugängen. Sie regen zum Denken an.

Beiläufig und unbeabsichtigt

Wenn Kulturinitiativen also Bildungsarbeit leisten, dann ist diese eher „Nebenprodukt“ der eigentlichen Tätigkeiten, sie erfolgt beiläufig und unbeabsichtigt. In der zeitgenössischen Lernpsychologie spricht man von ‚informellem‘, präziser noch von ‚inzidentellem‘ Lernen. Der Begriff ‚informelles Lernen‘ basiert auf der Überzeugung, dass Lernen weniger auf der Aneignung von theoretischem Wissen und mehr auf Erfahrungen aufbauen solle. Diese Idee ist schon gut 100 Jahre alt und wurde erstmals vom amerikanischen Philosophen John Dewey formuliert.[2]

Heute wird informelles Lernen von verwandten Begriffen getrennt. So ist von inzidentellem Lernen[3] die Rede (engl. incidental = beiläufig, zufällig), wenn eine Person neben ihrer eigentlichen Tätigkeit etwas Anderes lernt. Ein bekanntes und gut erforschtes Beispiel dafür ist, dass Menschen während des Fernsehens mit Untertiteln zumindest einfache Sätze in einer für sie fremden Sprache lernen können.[4] Auf ähnliche Weise kann eine Person ein Theaterstück mit der Absicht besuchen, einen kulturell anregenden und unterhaltsamen Abend zu verbringen. Nebenbei kann sie sich jedoch Wissen über soziale Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung aneignen.[5] Und sie hat die Möglichkeit, sich soziale und kommunikative Kompetenzen anzueignen – etwa durch den Austausch mit anderen Besucher*innen, durch das Mitbekommen, wie andere interagieren, und durch das sich selbst erproben Können.

Einsatzmöglichkeiten in der Kulturarbeit

Inwiefern inzidentelles Lernen im Alltag von Kulturtätigen Anwendung finden kann, hängt zunächst von deren Willen ab, Bildungsarbeit zu leisten. Wenn sie das wollen, kann ein Grundverständnis der Funktionsweise von inzidentellem Lernen dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen. Inzidentelles Lernen kann Prozesse des Wissenserwerbs anregen und Vorkenntnisse schaffen. Kulturtätige können es also dazu benutzen, Bewusstseinsbildung zu betreiben und Handlungsmacht zu vermitteln. Hierfür sprechen zwei Gründe: Die fehlende Lehr- und Lernabsicht der Beteiligten lässt Inhalte auf offene Ohren, Gehirne und Herzen treffen. So dringen neue, unbekannte Themen und Perspektiven in die Wahrnehmung ein, die in einem formalen Lernsetting nicht auf die notwendige Offenheit gestoßen wären. Es wird Bewusstsein geschaffen. Außerdem wird durch das Verzichten auf abstrakte Erklärungen aus einer Situation des wissen Müssens eine Situation des (mit)erleben Dürfens. Die lustvolle Erfahrung ermöglicht es, sich mit positiver Erwartung in die eigene Zukunft zu wenden und dadurch Handlungsmacht über das eigene Schicksal zu erlangen.

Was bringt‘s?

Gerade Bildungsangebote für Erwachsene haben oft mit dem Problem zu kämpfen, mehr von privilegierten Menschen mit höheren formalen Bildungsabschlüssen und besseren beruflichen Positionen genutzt zu werden. Informelle Bildungsangebote dagegen zeigen deutlich geringere soziale Barrieren, je niedrigschwelliger sie angelegt sind.[6] Es ist also denkbar, dass inzidentelle Bildungsangebote Menschen ansprechen, die andere Bildungsangebote weniger in Anspruch nehmen. Kulturinitiativen können so einen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion leisten.

Ein weiteres Defizit von Wissen, das in formellen, also z.B. schulischen Lernsettings erworben wird: Es wird oft im Alltag nicht angewendet, weil die Lernenden darin wenig Sinn erkennen.[7] Gerade diesen Sinn könnten auf inzidentelles Lernen ausgerichtete Veranstaltungsformen vermitteln. Hier wird schließlich auch der Zusammenhang zwischen Kulturinitiativen und kultureller Bildung deutlich. Durch den bewussten Einsatz inzidentellen Lernens können sie den klassischen Kanon ergänzen. Sie erziehen nicht, sie ermöglichen. Sie leiten nicht an, sie laden ein. Darin liegt die besondere Kompetenz von Kulturarbeit.


[1] Ermart, Karl (2009): Was ist kulturelle Bildung?, Online unter: https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59910/was-ist-kulturelle-bildung/ (Letzter Zugriff am 23.2.2022).

[2] In seinem Buch Democracy and Education benutzte er erstmals den Begriff ‚informelles Lernen‘ und stellte es als ‚natürliches Lernen‘ dem schulischen Lernen gegenüber. Auf ihn geht auch das Credo ‚Learning by Doing‘ zurück.

[3] Röhr-Sendlmeier, Una M. & Käser, Udo (2016): Informelles Lernen aus psychologischer Perspektive. In: Rohs, Matthias (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer, 207–223.

[4] Kuppens, A. H. (2010). Incidental foreign language acquisition from media exposure. Learning, Media and Technology, 35, 65–85.

[5] Obwohl die Forschung sehr stark in experimentellen Settings, also unnatürlichen Umgebungen, arbeitet, gilt als erwiesen, dass Menschen auch unbewusst, ohne Absicht und mit geringer Aufmerksamkeit wahrgenommene Lerninhalte sehr gut speichern und verarbeiten können. Und es gilt als erwiesen, dass inzidentelles Lernen nicht nur zu implizitem – also anwendbarem, aber nicht weitergebbarem – sondern auch zu ‚explizierbarem‘, also verbalisierbarem Wissen führen kann (Röhr-Sendlmeier & Käser 2016).

[6] Kaufmann, Katrin (2016): Beteiligung am informellen Lernen. In: Rohs, Matthias (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer, 65–86.

[7] Stangl, W. (2022): Latentes, implizites, inzidentelles oder informelles Lernen. [werner stangl]s arbeitsblätter. Online unter: www.arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/LatentesLernen.shtml (Letzter Zugriff am 23.2.2022).