Wird im Jahr 2021 das Thema „Lust“ ausgegeben, muss ich unausweichlich an eine der großen österreichischen Autorinnen denken, die ihren 75. Geburtstag feierte. Im Roman Lust und in anderen Texten zeigt Elfriede Jelinek zwischenmenschliche Beziehungen als gesellschaftlich vorgegebene, patriarchal bestimmte Konstrukte, geprägt von Gewalt und Macht; Sprache und Körper ihrer Figuren sind Ausdruck davon und diesen Strukturen unterworfen. Immer wieder als Nestbeschmutzerin beschimpft, das Feuilleton zu Lob und Häme provozierend, fühlt die sprachgewaltige Autorin und Nobelpreisträgerin als literarische Seismografin seit Jahrzehnten der Gesellschaft auf den Zahn. Sie schone sich dabei nicht und denke nicht daran, für wen sie schreibe, sagt sie. Jelinek sucht und lebt die Einsamkeit; ein*e Künstler*in könne nur dann produktiv werden, wenn sie sich von den Menschen distanziere – eine radikale Annahme, die sich in ihren Arbeiten spiegelt. Jelineks Arbeit ist für verschiedene Medien konzipiert: für das gedruckte Buch, ihre Website, die Bühne, die Leinwand, das Radio. Dort können sich die Rezipient*innen der Kunst Jelineks aussetzen – so muss es heißen, handelt es sich doch nicht um Literatur, die dem Unterhaltungssegment zugerechnet wird. Kunst kann unbequem sein, verstörend, abschreckend, alles andere als das, was man landläufig als unterhaltend oder gar lustbringend bezeichnen würde. Doch abgesehen von Werturteilen bedeutender Jurys, Kritiker*innen oder Spezialist*innen, die sich einem Segment der künstlerischen Produktion und dessen Deutung verschrieben haben – was ist die Antwort auf die Frage: Warum soll ich das lesen, sehen, hören? Was hat das mit mir zu tun?
Gerade dann, wenn mir eine künstlerische Äußerung befremdlich erscheint, ohne Verbindung zum eigenen Erfahrungshorizont, fordert sie mich heraus, neu anzusetzen und meine Wahrnehmung zu hinterfragen. Elfriede Jelinek sagt von sich, sie lese viel Schund, Trash-Zeitschriften und Kriminalromane; auch Zeitungen und philosophische Literatur: „Es gibt die Tätigen und die Lesenden, kommt mir vor. Ich bin untätig, aber nicht unlesend und nicht unleserlich.“ Bevor ich zur Tat schreite und ein Buch zur Seite lege, lasse ich mich lieber hinreißen.