Die Kunst der Teilhabe

Zeitgenössische darstellende Kunst und Partizipation: Welche Ansätze gibt es dazu in Salzburg? Die Tänzerin und Choreografin Nayana Keshava Bhat berichtet über partizipative Performances und zieht Verbindungen zu klassischen indischen Tanzformen.

Kunstwerke müssen für ihr Publikum relevant sein. Ohne diese Relevanz verliert die Kunst das Engagement und die Beteiligung des Publikums. Das Bemühen, Kunst für das Publikum relevant zu machen und mit ihm interagieren zu können, wird durch räumliche, thematische, soziale, politische, zeitliche Kontexte bestimmt, in die Kunst und Publikum gestellt werden. Diese Kontexte sind variabel.

Teilhabe in der indischen Philosophie

Indische klassische darstellende Kunstformen basieren auf der Rasa-Theorie: Ein Kunstwerk muss durch seine Existenz Rasa erzeugen – einen essenziellen Geschmack, einen bestimmten Seinszustand, Emotionen – etwa Humor, Ekel, Verwunderung, Freude. Das Rasa braucht eine Rasika, eine*n Genosse*in, die*der das, was wahrgenommen und erlebt wird, wertschätzt. Rasa wird durch die Darstellenden verkörpert und erlebt, und soll auch im Publikum Rasa erzeugen. Nach diesem Prinzip nehmen sowohl die Darstellenden als auch das Publikum großzügig und proaktiv an der Erschaffung von Kunst teil. Dies soll zur Transzendenz des Ego in die spirituelle Welt führen. In diesem Sinne ist alle Kunst im Wesentlichen partizipativ und es gibt keine ‚Außenstehenden’ in der (indischen) Kunst.

Das Publikum performt

In AS FAR AS WE ARE – einer Arbeit der Salzburger Choreografin Helene Weinzierl und ihrer Tanzkompanie CieLaroque – interagieren die Performer*innen mit dem Publikum. Es sitzt in vier Quadraten direkt auf der Bühne. Zuerst unbeschwert, humorvoll und noch distanziert werden die Zuschauenden nach und nach offen zu kleinen Aktionen aufgefordert. Eine kleine Bewegung hier, eine symbolische Handlung dort. Eine Tänzerin bittet eine Zuschauerin, den Arm eines Tänzers zu bewegen, seine Körperteile zu manipulieren. Dann soll sie den Darsteller küssen oder seinen Arm ablecken. Der Freiwilligen ist es sichtlich unangenehm, dies zu tun, aber sie tut es trotzdem. Eine Aufführung, die bisher unterhaltsam und lustig war, beginnt plötzlich, persönliche Grenzen zu überschreiten. Ein Teil des Publikums verlässt verärgert den Raum. Einige andere winden sich unbehaglich in ihren Stühlen.

Die Rasas von Abscheu, Entsetzen, Uneinigkeit, Wut, Schock, Humor und anderen Gefühlen werden im Publikum durch den partizipatorischen Aspekt der Arbeit hervorgerufen. Niemand lehnt die Einladung ab, zu ‚performen’, niemand setzt Grenzen. Es besteht ein impliziter sozialer Vertrag, eine Aufführung so ‚ungestört’ wie möglich ‚geschehen zu lassen’. Die Aufforderung zur Teilnahme muss angenommen werden, um die Aufführung nicht für alle anderen zu ruinieren! In diesem Stück wurden Zivilcourage und Entscheidungsfindung thematisiert, wird noch einmal verständlicher, warum im Stück ein partizipatorischer Ansatz gewählt wurde.

Weitere Beispiele aus Salzburg

Tomaz Simatovic, ein slowenischer Künstler, der seit langem in Salzburg und Wien lebt, setzte mit dem Jahresstipendium des Landes Salzburg The Performing Solidarity Project um. Unter diesem Dachprojekt entstanden mehrere Arbeiten, die mit Formaten der Publikumsbeteiligung experimentieren. Sie alle schaffen partizipative Räume, in denen Solidarität und Kooperation durch die Kunst ‚erlebt’ werden.

Im Stück suddenly the floor was not there wird versucht, das Publikum nicht explizit aufzufordern, sondern selbst entscheiden zu lassen, ob es eingreifen will oder nicht – ein sehr spannender Prozess. In Extraordinarily Intolerable (siehe Titelfoto von Bernhard Müller / INFLUX) leitet eine Performerin die Zuschauenden zu einer Reihe von alltäglichen Handlungen an. Die Performance deckt so nach und nach Formen der Unterstützung illegaler Migration auf. Das Dilemma, dass solidarisches Handeln strafbar wird, löst bei den Zuschauer*innen das Rasa der Empathie und des Mitgefühls aus. 

In der Performance More than Naked ließ die Wiener Choreografin Doris Uhlich im Jahr 2015 16 Tänzer*innen völlig nackt für die Salzburger Sommerszene tanzen. Die Performance war so elektrisierend, dass am Ende der eineinhalb Stunden fast alle der 350 Zuschauenden mit den Tänzer*innen tanzten. War es eine partizipative Performance per se? Nein. Hat sie zum Mitmachen angeregt? Auf jeden Fall.

Prozess und Engagement

Im Grunde ist partizipative Kunst ein ständiger Prozess der Entdeckung neuer Formen der Auseinandersetzung mit dem Publikum. Die Beziehung von Rasa und Rasika ist das, was die Performance mit ihrem Publikum verbindet und zu proaktivem und aktivem Engagement anregt. Durch Partizipation erleben Zuschauende eine Performance intensiver. Partizipation bedeutet aber auch Autonomie auf der Seite der Beteiligten und Autonomie erfordert Verantwortung gegenüber sich selbst, der Gruppe und der Sache. Kunst, die ihre Teilnehmer*innen grundlegend beteiligt, kann kollektive Bewegung(en) jeglicher Art inspirieren – künstlerisch, sozial, politisch und kulturell – und in Bewegung bringen.