Grenzen setzen, Nein oder Stopp sagen, … natürlich können wir das alle. Halt nicht immer und bei jedem. Coach Michaela Hainzl skizziert die Räume, die notwendig sind, um Nein zu sagen.
Neinsagen. Als Kinder können wir’s noch extrem gut, später machen wir die Erfahrung, dass das nicht überall und bei jedem so toll ankommt. Das haben wir abgespeichert und daher fällt vielen von uns dieses Neinsagen dort besonders schwer, wo uns Themen oder Menschen am Herzen liegen. Wir wollen mit voller Kraft da sein, niemanden hängen lassen. Dabei spielt Identifikation eine Rolle, aber auch Rollenbilder, Muster und Glaubenssätze, die in unserem Unterbewusstsein gespeichert sind. Dort ist vielleicht von früher noch abgelegt: Neinsagen kann weh tun. Dies kann unsere Entscheidungsfreiheit stark einschränken. «Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit», ist eine Überzeugung Viktor Frankls, des Begründers der Logotherapie und Existenzanalyse.
Entsprechend liegt ein zentraler Aspekt bei der Entscheidung, ob wir etwas übernehmen oder nicht, ob wir zu etwas «Ja» sagen oder «Nein», im Bewusstsein, diesen Raum und diese Macht zu haben. Es ist dieser Raum, der uns ermutigt und zu einer bewussten Wahl ermächtigt. Dem ‹Getrieben-Sein›, dem (unbewussten) Druck oder Muster wird unsere Macht zur freien Entscheidung, zur Wahl unserer Reaktion, gegenüber gestellt.
Freiheit und Verantwortung
In der Logotherapie spielen (Entscheidungs-)Freiheit und Verantwortung eine große Rolle. Diese beiden gibt es nur im Doppelpack. Was bedeutet das? Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, übernehmen wir auch Verantwortung (uns und anderen gegenüber). Mit jeder Entscheidung gestalten wir uns selbst und unser Umfeld. Mit jeder Entscheidung geben wir unserer Entwicklung eine Richtung, schaffen Klarheit, wer wir sind, wofür wir stehen, was wir bereit sind zu tun und was nicht. Wir werden für unser Gegenüber besser einschätzbar und unsere Motivationen nachvollziehbar.
Da wir alle nur ein bestimmtes Maß an Energie zur Verfügung haben, müssen wir Prioritäten setzen. Wissend, dass eine Entscheidung gegen eine Sache gleichzeitig die Entscheidung für etwas anderes ist, können folgende Fragen hilfreich sein:
Kann ich das Angefragte gesund, also im Rahmen meiner Möglichkeiten und Kräfte gut leisten? Liegt das Angefragte ‹auf meinem Weg› im Sinne von: Ist es das, wofür ich mich in meinem Leben einsetzen möchte? Das meine besten Kräfte zum Vorschein bringt? Oder lenkt es mich von diesem ‹Besten› ab?
Und wenn mehrere betroffen sind?
Das alles ist auch auf menschliche Systeme übertragbar. Jede Organisation, jeder Verein, jede Initiative hat genauso ihre Glaubenssätze und Muster, ihre realen und tradierten Gegenspieler*innen und Unterstützer*innen. Hier ist eine noch größere Komplexität vorhanden, eine Vielzahl von Menschen, Kräften und Interessen sind in Einklang zu bringen. Das Ganze spielt sich zusätzlich vor dem Hintergrund sich permanent verändernder politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ab. Auch hier stellen sich Fragen des Ja oder Nein.
Für Organisationen können hilfreiche Fragen dann so aussehen: Wofür haben wir uns ursprünglich gemeinsam auf den Weg gemacht? Was ist das, was wir mit unserer gebündelten Kraft erreichen wollen? Was ist der durch unser Zusammenspiel ganz spezifische Beitrag? Was ist JETZT möglich? Welche Haltung, welche Blickrichtungen aber auch welche Aktivitäten lenken uns vom Eigentlichen ab und binden unsere ohnehin begrenzten Energien?
Dieser Perspektivenwechsel von der hypnotischen Anziehung des Negativen hin zum Veränderbaren und Gestaltbaren ist immer möglich. Genau darin bestehen wieder unsere Freiheit und unsere Gestaltungsräume.
Nichts setzt so massive Kräfte frei, wie die Begeisterung für eine Sache, für eine Idee. Aus dieser Begeisterung können wir die Kraft zum Anders-Tun ziehen. Immer unter der Prämisse, es auf gesunde Art zu tun, also nicht mehr einzusetzen als derzeit verfügbar ist. Und wie erkennen wir, was verfügbar ist? Indem wir uns den Raum nehmen für eine gewisse Distanz und für ehrliche und ausführliche Kommunikation, in der jede*r Einzelne nach gutem Abwägen klar «Ja» und «Nein» sagt.
Ohne Nein kein Ja
Egal ob Ja oder Nein: Es geht darum, zu erkennen, dass wir frei und mächtig sind, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Dass wir uns selbst mit unseren Fähigkeiten und Grenzen wahr- und ernst nehmen. Und dass wir zu vielem wohl «Nein» sagen müssen, damit wir frei sind, zu jenen Themen und Aufgaben in der Welt, die uns im Innersten betreffen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes am Herzen liegen, laut «Ja» zu sagen.