Untergang feiern

Zwei große österreichische Theater-/ Performance-/ Kunst-Festivals beschäftigten sich diesen Herbst mit Abgesängen auf unsere Zivilisation. Als Expert*innen des Untergangs unterhielt sich Katharina Serles mit der Kuratorin des Steirischen Herbsts, Ekaterina Degot, und einem der beiden Kurator*innen des Open Mind Festivals in Salzburg, Sebastian Linz, über Potentiale, aber auch Gefahren von Dystopien.

Katharina Serles: Der Steirische Herbst 2019 unter dem Motto «Grand Hotel Abyss» ist vorbei. Steht das Hotel noch?

Ekaterina Degot: Ja, es steht immer noch. Das Grand Hotel Abyss ist Graz, es ist Österreich und Europa.

In Ihrer Eröffnungsrede sprachen Sie dennoch von dem bevorstehenden «Kollaps» dieses Hotels – und wir stoßen überall auf ähnliche Ideen einer «Wiederkehr der Apokalypse». Woher kommt das?

Degot: Vielleicht ist das immer noch ein postmodernes Gefühl, denn es gab keine Ablösung durch die Avantgarde. Unser Festival konzentrierte sich auf ein bestimmtes, subjektives Gefühl, das auch ein sehr österreichisches ist und aus den Habsburger Zeiten herrührt: die fröhliche Apokalypse, ein Hedonismus in unruhigen Zeiten. Diese Stimmung hat die teilnehmenden Künstler*innen inspiriert. Auf der anderen Seite verwiesen wir auf die zutiefst abgründige Seite des Hedonismus, auf die realen, täglichen Geschehnisse. Das Gefühl des guten Lebens in Europa funktioniert dann besonders gut, wenn es dort, hinter dem Meer, ‹andere› Menschen gibt, die mit Neid und kriminellen Vorhaben auf uns schauen – und schlussendlich in Europa einfallen wollen, wie der rechte Populismus uns weismachen will. Das heißt, die Basis dieses Hedonismus in der ‹Festung Europa› sind Ängste.

«Bye Bye Umwelt» «Bye Bye Mitgefühl» «Bye Bye Wahrheit» «Bye Bye Westen»

Auch das Programm des Open Mind Festivals 2019 unter dem Titel «Bye Bye Everything» fragte nach den vielleicht nun doch gekommenen «letzten Tagen der Menschheit».

Sebastian Linz: Uns war wichtig, unser Festival mit einer Angstperspektive zu beginnen bzw. von Drohszenarien auszugehen – wie etwa «Bye Bye Umwelt», «Bye Bye Mitgefühl», «Bye Bye Wahrheit», oder «Bye Bye Westen» – und uns erst langsam zu affirmativen Positionen, zu einer performativ künstlerischen und ironisch gebrochenen Form des Abschieds vorzuarbeiten. Wir sagten also nicht nur «Juhu, Untergang», sondern befragten diesen durchaus ergebnisoffen. Das Konzept lautete: Auf denselben Tischen tanzen, an denen zuvor stundenlang Utopien und Dystopien entworfen wurden.

Haben diese Krisennarrative eine neue Dringlichkeit? Und können Sie eine Art aktuelles Heilsversprechen des Untergangs ausmachen?

Linz: Für einen Beleg der Omnipräsenz dieser Narrative muss man nur die Zeitung aufschlagen. Ich bin gerne Apokalyptiker und singe Abgesänge oft auch lustvoll mit, aber das ist keine produktive Haltung. Wir untersuchten in unserem Festival also explizit nicht Untergang oder Abschied, sondern Erzählungen davon, in unterschiedlicher Ausprägung. Die ungarische Philosophin Ágnes Heller argumentiert in Von der Utopie zur Dystopie zum Beispiel, dass die Utopie etwas, ist, was uns lähmt, weil sie uns Hoffnung lässt auf eine bessere Zukunft, während die Dystopie handlungsmotivierend ist, weil sie uns immerhin die Möglichkeit gibt, das Negative abzuwenden.

Degot: In Russland heißt es: Je schlechter die Lage, desto besser für die Intellektuellen. Dieser Druck mobilisiert, bringt zusammen und fördert das Nachdenken.

Im Open Mind Festival wurde sich von allem Möglichen verabschiedet, bloß nicht von der Kultur. Muss man mit Blick auf die immer kargeren Förderungslandschaften vielleicht auch sagen «Bye Bye Kultur»?

Linz: Ich kann qua Berufs wegen schon nicht «bye bye» zur Kultur sagen, weil ich ja davon lebe und sie mache. Ich glaube auch nicht, dass wir die Kultur verabschieden wollen oder retten müssen.

Degot: Prinzipiell geht es der Kunst und Kultur hierzulande sehr gut. Ich bin in Russland geboren, kann die Situation aber auch mit Ländern wie der Türkei und dem Iran vergleichen, wo der Staat kritische Kultur nicht nur nicht subventioniert, sondern kritische Künstler*innen sich existenziellen Gefahren aussetzen. In Europa ist das nicht so – und trotzdem können wir gefährliche Tendenzen ausmachen, die sich einschleichen: etwa die, keine kritische, sondern bloß loyale oder affirmative Kunst zu akzeptieren.

Betrifft das auch Ihre Festivals?

Linz: Wir haben es relativ gut, weil wir recht groß sind und eine Mehrheit der Salzburger Bevölkerung, auch in der konservativen Bürger*innenschaft, auf unserer Seite haben. Die ARGEkultur ist keine Off-Institution, die ein kleines Publikum bespielt. Gleichzeitig sind wir nicht das Landestheater oder die Salzburger Festspiele, sind also angreifbar und das wird auch gemacht – im Kleinen und vielleicht schon im Größeren. Dann versuchen wir im Reflektieren zu einem Handeln zu kommen.

Degot: Zunehmend schwierig für uns ist schon, dass der künstlerische Diskurs entpolitisiert wird und es Populist*innen nur noch um Kategorien wie Sichtbarkeit und Besucher*innenzahlen geht. Wir sind ein ambitioniertes und intellektuelles Festival, aber wir werden zumeist nicht inhaltlich kritisiert. Die internationale Öffnung, die wir erreicht haben, wird lächerlich gemacht, vom Tisch gewischt, oder aktiv wegignoriert. Reaktionäre, sogar nationalistische Behauptungen über uns werden hinter Zahlen und gefühlten Wahrheiten versteckt. Das ist ein Problem.

War der Steirische Herbst angesichts dieser Abgründe auch ein Aufruf zum Handeln?

Degot: Da muss ich Sie enttäuschen. Ich traue dieser Vermischung von Aktivismus und Kunst nicht. Kunst muss ihr Privileg der Autonomie nutzen, das sie in Europa und in den USA immer noch besitzt, und das heißt auch, Raum für Meinungsfreiheit bieten, die Komplexität der Dinge aufzeigen, gerade weil viele Dinge nicht gesagt werden, oder nicht in der Ausführlichkeit, derer sie eigentlich bedürfen. Diese reflexive Haltung ist momentan gefährdet.

Wie kann man trotz allem künstlerisch arbeiten, wenn die Ressourcen fehlen? Wenn Förderungen gekürzt werden oder ausbleiben?

Linz: Die Frage, die ich mir stellen würde, wäre: Befähigt mich ein Damoklesschwert eher, etwas zu tun, oder hindert es mich? Mit Ágnes Heller würde ich sagen, mich befähigt das. Aber was wir tun würden, wenn Stadt, Land, oder Bund uns 10 % Förderungen kürzen würden, das weiß ich wirklich nicht. Aufgeben oder aufhören können und werden wir sicher nicht.

Vielleicht streiken?

Linz: Nur mit den Mitteln der Kunst.