Wer macht für wen Theater und warum?

Ein Plädoyer für Solidarität und politische Allianzen von der Rampe in den Zuschauerraum und wieder zurück hinter die Bühne. Von Theresa Seraphin.

Politische Agitation, solidarische Allianzen und politische Stellvertretung haben im Theater Tradition. So wie Brecht dezidiert für ein proletarisches Publikum schreibt, entwickeln Yael Ronen und ihr Team Stücke für ein postmigrantisches Publikum. So wie Christoph Schlingensief durch telefonische Abstimmung über den Verbleib von Migrant*innen in Österreich entscheiden lässt, erheben Thom Truong die Diskriminierung von Zuschauer*innen mit braunen Augen zum Performance-Prinzip. Als Kunstform der Öffentlichkeit und der Versammlung hält das Theater eine Vielzahl agitatorischer Mittel parat.

Politische Versammlung oder Kunstprojekt?
Im Rahmen des European Balcony Projects wird am 10. November 2018, um 16 Uhr an verschiedenen öffentlichen Orten Europas die Europäische Republik in einer Kunst-Performance ausgerufen. Dazu wird ein Manifest verlesen, das in Ton und Stil an die Republiksausrufungen von 1918 erinnert. Durch das Projekt soll eine niedrigschwellige, breitenwirksame Debatte über die Zukunft Europas vor den anstehenden EU-Wahlen ausgelöst werden. Solch eine Ausrufung wiegt nichts ohne ihre Zeug*innen, und auch das Theater ist nichts ohne seine Zuschauer*innen. In Salzburg beteiligt sich die ARGEkultur, die inklusive Theatergruppe Theater Ecce verliest dort das Manifest. Als ihre Mitglieder kurz vor 16 Uhr das Foyer der ARGEkultur in Salzburg betreten, ist es gefüllt mit Theaterbesucher*innen und Aktivist*innen, Senior*innen und Studierenden, Salzburger*innen und anderen Europäer*innen. Auch eine Vielzahl an politischen Initiativen, von Pulse of Europe bis zu den Omas gegen rechts, sind der Einladung gefolgt.

Während der Verlesung herrscht eine konzentrierte und lebendige Stille. Teilnehmer*innen diskutieren leise das gerade Vorgetragene, immer wieder sind Zwischenrufe, wie „genau“, „richtig so“, aber auch „naja“, und „darüber müssen wir noch reden“, zu hören. „Es lebe die Europäische Republik!“, beendet die Theatergruppe Ecce ihren Vortrag. Manche beginnen zu klatschen, andere schütteln entschieden den Kopf, einzelne sehen besonnen vor sich hin. In der anschließenden Diskussion wird mit großer Mehrheit für die Auflösung der europäischen Nationalstaaten gestimmt, für die Demokratisierung Europas eingetreten aber auch kritisch gegen den Vorschlag einer übergreifenden Republik gesprochen. Selten habe ich ein so elektrisiertes Publikum erlebt. Sind Sie hier bei einer politischen Versammlung oder bei einem Kunstprojekt?, werden die Teilnehmer*innen zum Abschluss im Foyer gefragt. Die Antworten sind widersprüchlich.

Diversität auf und hinter den Bühnen
Will man das Theater als Möglichkeitsraum für Solidarität und politische Allianzen ernst nehmen, muss die Auseinandersetzung damit im Betrieb, und nicht allein auf der Bühne stattfinden. Sonst wird politische Agitation zu einer paternalistischen Geste. An dieser Stelle überschneiden sich ästhetische und kuratorische und strukturelle Fragestellungen. Politische Bewegungen wie #metoo und #metwo haben in den letzten Jahren eindrücklich gezeigt, dass die Frage, was auf den Bühnen gezeigt wird, untrennbar mit Personalentscheidungen des Theaterbetriebs verbunden ist. Repräsentation und Diversität sind hierbei die Schlagwörter der Stunde. Mit anderen Worten: Wenn Frauen, People of Color, die LGBTQI-Community und auch Arbeiter*innen selbst auf und hinter den Bühnen präsent sind, muss sich kein*e privilegierte*r Autor*in oder Regisseur*in mehr berufen fühlen, diese Personengruppen in ihrer Arbeit zu vertreten. Sie können das selbst und eben als sie selbst tun.

Der im deutschsprachigen Raum noch verhältnismäßig neue Begriff der ‚community‘ für das identifikatorische Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe, kann in diesem Zusammenhang helfen zu spezifizieren. Denn unter den neuen, identitätspolitischen Vorzeichen stellt sich einmal mehr die Frage: Wer macht wann für wen Theater und warum?

Fragestellungen und Bewusstsein
An diese grundsätzliche Frage lassen sich eine Reihe von Fragen anschließen: Sind Produzent*innen und Rezipient*innen Teil der gleichen gesellschaftlichen community? Ist die Zugehörigkeit zu dieser einen oder zu verschiedenen communities entscheidend für ihr jeweiliges Selbstverständnis? Bildet die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen oder zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen die Basis ihres Zusammenkommens im Rahmen der Theateraufführung? Wie viele unterschiedliche Gruppen kommen im Rahmen der Theateraufführung zusammen? Und natürlich: Welche Möglichkeiten gibt es, gesellschaftliche Gruppen zu bestimmen und welche davon sind für das Verhältnis von politischer Solidarität und Theater potentiell relevant?
Durch die Klärung dieser Fragen ließen sich gleich eine Reihe von Veranstaltungsformaten und auch Problemstellungen spezifizieren. Dabei ist zu betonen, dass das Schlagwort „Diversität“ nicht notwendigerweise für alle Institutionen und Initiativen gleichermaßen zutrifft. Selbstverständlich kann es durchaus wertvoll und ausbaufähig sein, an einem bestimmten kulturellen Ort ein Angebot für eine spezifische Zielgruppe zu gestalten und auf diese Weise vielleicht so etwas wie ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Community erst zu schaffen.

Kulturpolitischer Auftrag
Spätestens aber, wenn eine Institution Fördergelder bekommt, mit dem kulturpolitischen Auftrag, eine Stadt oder eine Region mit Theater zu versorgen, muss sie ihren Spielplan und auch die personelle Besetzung an der Diversität und Pluralität der Bevölkerung, für die sie produziert, messen lassen. Der deutsche Verein “Pro Quote Bühne” fordert eine 50-prozentige Frauenquote in allen Abteilungen des Theaters. Eine Diversitäts-Quote wird ebenfalls diskutiert. Eine Bewegung gegen die stetige Akademisierung des Theaters müsste sich zuallererst gegen das Eliten-Bashing der Rechten abgrenzen. Es gibt viel zu tun!