Alev Korun über Prekarität in wohlsituierten Schichten und „Leit-Kultur“ als Versuch der Rückgewinnung von Definitionsmacht.
Ich sitze interessiert in der Amerikanistik-Vorlesung. Der Star-Professor unseres Instituts erzählt fasziniert von mehreren Autoren, deren Erzählkunst er in höchsten Tönen lobt. Dann fällt der Satz: „I mean, this is MALE fiction! Something is happening in these stories!“. Er lacht sein Publikum an, das zu ca. 97 Prozent aus weiblichen Studierenden besteht. Ich schaue mich um, ob ich die einzige bin, die schwer irritiert ist. Unsicheres Kichern, verwirrte Gesichter. Niemand in der Vorlesung wagt das auszusprechen, was wahrscheinlich vielen durch den Kopf geht: Wie trauen Sie sich, vor fast nur weiblichen Studierenden Literatur von Frauen derart herunterzumachen, in der angeblich „nichts passiert“? Die Verwirrung im Raum dürfte der Prof dann doch wahrgenommen haben, er räuspert sich, entschuldigt sich kurz, er habe es nicht so gemeint.
Diese Szene aus meinem Amerikanistik-Studium an der Uni Innsbruck Anfang der 1990er Jahre fällt mir in letzter Zeit immer wieder ein, wenn mit Nachdruck vor allem MigrantInnen und Flüchtlingen gegenüber betont wird: „Bei uns sind Frauen und Männer gleichberechtigt“. Die Realverfassung ist vielmehr, dass Frauen noch immer um 21,7 Prozent weniger in der Stunde verdienen als Männer.
Wer sind wir?
Schauen wir uns noch einmal die Theorie dazu an, nicht zufällig wieder – nur – an MigrantInnen gerichtet: „In Österreich darf man nicht diskriminiert werden, wenn man eine Stelle sucht oder bereits eine Arbeit hat“ (Broschüre für den „Wertekurs“, ausschließlich für Flüchtlinge und MigrantInnen).
Es ist natürlich auch in anderen Ländern verlockend, sich im Vergleich zu „Fremden“ in einem günstigen Licht zu sehen bzw. in einer idealisierten Form darzustellen. Schließlich war und ist „der/das Andere“ immer Abgrenzungsobjekt und damit Definitionshilfe für „das Eigene“. Die Krise, die zur Phantasie einer „Leit-Kultur“ geführt hat, ist aber eine viel tiefergehende.
Sie lässt sich mit folgender Begebenheit plastisch schildern: Eine junge, gebürtige Wienerin mit türkisch-kurdischen Großeltern beteiligte sich vor ein paar Jahren an einer „Integrationsdiskussion“ mit den Worten „Wir Österreicher könnten …“. Eine ältere Wienerin daraufhin verwundert: „Wenn schon Leute wie Sie sagen, sie seien Österreicher, was sind dann WIR?“.
Die Definitionsmacht, zu bestimmen, wer als Österreicher gesehen wird bzw. wer sich als solcher bezeichnen darf, ist brüchig geworden. Jetzt trauen sich sogar Leute, die Öztürk oder Agbogbe heißen, sich Hiesige zu nennen. Das rüttelt an der bisherigen Rangordnung, wer sich als zugehörig definieren „durfte“, wer also zum „Wir“ gehörte. Die Verunsicherung und Frage der älteren Dame ist also nachvollziehbar: „Was sind dann jene, die bisher das ‚Wir‘ für sich beansprucht haben, wenn das ‚Wir‘ sich verändert“?
Kulturkampf leiten
Der deutsche Soziologe Armin Nassehi bezeichnet diese Verunsicherung als „einen erbitterter werdenden Kulturkampf darüber, wer die narrative Autorität hat, darüber zu entscheiden, was sagbare Sätze sind, was als ‚normal’ gilt“[1]. Die bisher gesellschaftlich vorherrschenden Schichten seien „Modernisierungsverlierer in dem Sinn, dass sie die Autorität verloren haben, widerspruchsfrei zu sagen, was das richtige Leben“[2] – oder wer eben ein „echter Österreicher / eine echte Österreicherin“ sei.
Die „Leit-Kultur“ kommt hier als „Heilungsversprechen“ ins Spiel. Sie soll die alte Ordnung wieder herstellen, die Unübersichtlichkeit beseitigen und ImmigrantInnen, Flüchtlingen, aber auch Homosexuellen und Frauen ihren gesellschaftlichen (minderwertigen) Platz wieder zuweisen. Deshalb das „Leitende“ an der „Leit-Kultur“. Es ist also kein Zufall, sondern das Herzstück der „Leit-Kultur“, dass es (wieder/weiterhin) Leitende und Geleitete, Definierende und Definierte geben soll in der Gesellschaft.
Das stellt man relativ schnell fest, wenn man bei Leit-Kulturalisten nachbohrt, um „unsere Kultur“, „unsere Werte“, „unsere Zivilisation“ genauer erklärt zu bekommen. Diese leben nämlich davon, dass sie maximal nebulos und unbestimmt bleiben. Werden anfangs oft die Aufklärung und Rationalität als „unsere Kultur“ bemüht, entpuppt sich das bald als ein Schutzargument, da gerade Aufklärung und Rationalität den Anspruch auf Universalität haben und sich einer Kulturalisierung verweigern. Unfreiwillig lustig wird es dort, wo eifrige Verteidiger „unserer Werte“ zum Beispiel ein „Einwanderungsstopp für Muslime“ fordern, da sie keine Rationalität kennen würden.
Wie weiter?
Die Vielfalt der Lebensentwürfe, das Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Orientierungen, Muttersprachen, Religionen u. ä. ist eine Tatsache und wird sich nicht in Luft auflösen. Dass es nur einen einzigen gesellschaftlich akzeptierten Lebensentwurf gäbe, ist eine Illusion, somit auch das Versprechen der Leit-Kultur. Es geht darum, mit der real existierenden Vielfalt unserer Gesellschaften umzugehen. Das heißt, „unsere Werte“ sind von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde, Mitbestimmung und Antidiskriminierung abzuleiten.
Statt Kulturalisierung, Essenzialisierung und Festschreiben der Unterschiede geht es um eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Statt Identitätspolitik und Hierarchisierung geht es um Rechte der Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit. Gerade da sind Frauenrechte als Menschenrechte unverhandelbar. Statt den Neuankömmlingen von oben herab zu predigen, „Bei uns sind Männer und Frauen gleich“, geht es darum, Menschenwürde und Menschenrechte für ALLE, und damit selbstverständlich die Menschenwürde und –rechte von Frauen, als „unsere Werte“ klarzustellen. Dann würde allerdings auch so mancher gebürtiger Österreicher „unseren Werten“ nicht immer ganz entsprechen.
In diesem Sinne: Auf zur gemeinsamen Verteidigung unserer demokratischen Werte!
[1] und [2] „Die Diskussion ist vergiftet.“, Interview mit Armin Nassehi in der Tageszeitung Taz, 31.12.2016.