Die Konflikte in der Türkei und Syrien bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die KurdInnen in Oberösterreich. Thomas Rammerstorfer über eine Gesellschaft zwischen Kultur und Kampf.
Früher oder später endet fast jeder Abend mit KurdInnen – ob Geburtstagsfeier, JournalistInnengespräch oder politische Demonstration – im kurdischen Kreistanz, dem Govend. Ein bisschen symbolisiert er wohl den ewigen kurdischen Kreislauf aus Unterdrückung, Erhebung, Niederlage, Unterdrückung, Erhebung … Jedenfalls ist er Teil einer Kultur des Widerstandes gegen die nationalistischen und religiösen Regime, mit denen sich die KurdInnen in ihren Hauptsiedlungsgebieten konfrontiert sehen. Im Kampf gegen die Despotien, gegen die türkische Staatsmacht, gegen die Mullahs im Iran, gegen Saddam Hussein im Irak, gegen Assad in Syrien, heute gegen den IS, morgen vielleicht wieder gegen Assad, ist die kurdische Identität entstanden. Denn sonst hat man nicht sehr viel gemeinsam. Ein gemeinsamer Staat existiert ebenso wenig wie eine gemeinsame Religion, letztere spielt auch meist keine große Rolle. Die Sprache teilt sich in unterschiedliche Dialekte, deren SprecherInnen einander kaum verstehen. Das Jahrzehnte währende Sprachverbot in der Türkei und die brutale Turkifizierungspolitik haben viel zu ihrer Marginalisierung beigetragen. Selbst Buchstaben, die im kurdischen, nicht aber im türkischen Alphabet vorkommen (etwa das X und das W), waren verboten. Die meisten KurdInnen in Österreich sprechen heute Türkisch miteinander.
Trachten und Vereine
Bei weitem nicht alle KurdInnen sympathisieren mit der „Befreiungsbewegung“. Einige haben sich der türkischen Mehrheitsgesellschaft angepasst. Viele AlevitInnen sind in politisch und ethnisch vielfältigeren eigenen Vereinen organisiert (z. B. in Perg, Steyr, Linz und Wels). Mezopotamya aus Linz und sein neuer Ableger in Wels stehen den Autonomie-Bestrebungen positiv gegenüber. Der Govend ist hier nicht nur Tanz. Die im Stile von Sprechgesängen vorgetragenen Erzählungen zur Musik sind oft politisch, sie erzählen häufig vom Aufstand, vom „in die Berge gehen“ (= sich der Guerilla anschließen). Auch die jeweiligen Trachten spielen eine Rolle. Dilan Dersim von der Tanzgruppe Govenda Azadi erzählt: „Im privaten Kreis ist das nicht so streng, aber bei großen Veranstaltungen oder Turnieren ist es schon wichtig, die richtige Kleidung zu tragen. Du kannst nicht eine Tracht aus Diyarbakir zu einem Lied aus Mardin tragen.“ Auch die Tanzstile seien regional unterschiedlich, man „erkennt an der Ästhetik, am Stil: Der Mann ist aus Bingöl, der ist aus Hakkari.“ Das Interesse an kurdischer Kultur und Politik habe generell zugenommen. Insbesondere das epische Ringen um die syrisch-kurdische Stadt Kobane (die Kugeln pfiffen noch durch die Straßen, da waren schon die ersten Heldengesänge vertont), die erste große Niederlage des IS, brachte den kurdischen Vereinen Sympathien und Zulauf. „In der Schule haben wir über nichts anderes mehr geredet“ sagt Dilan. Manch „Assimilierter“ entdeckte plötzlich seine „kurdische Identität“, und: Die können ja auch gewinnen, die KurdInnen. Nicht nur Opfer sein.
Heldinnen und dumme Buben
Dilan ist keine „Spätberufene“, sie fühlt sich praktisch „von Geburt an“ als Kurdin. Die elterliche Wohnung in Frankenmarkt war Treffpunkt der Community; im Fernseher lief quasi rund um die Uhr ein PKK-naher Sender mit Musik aus der Region und Reden von Öcalan. „Als Kind hab ich mal den Fernseher geküsst, als er drin zu sehen war“ erzählt sie schmunzelnd. Die kurdische Welt wirkt widersprüchlich. Die beinahe religiös anmutende Verehrung von Öcalan, die Heldenmythen und der Märtyrerkult erscheinen manch MitteleuropäerInnen archaisch – bezüglich Frauenrechten sind die „der Partei“ nahestehenden KurdInnen aber wohl fortschrittlicher als ihre Nachbarn ohne Migrationshintergrund. Frauen findet man nicht nur in den Parteien an vielen relevanten Positionen, oder in den bewaffneten Einheiten (mehr als 20 000 Kämpferinnen sollen mittlerweile allein die Frauenverteidigungseinheiten in Syrien zählen), sie spielen auch in den heimischen Vereinen herausragende Rollen. Sowohl Linz als auch Wels haben Obfrauen. Die Welserin ist Döndü C. Sie ist keine Kurdin. Ihre Eltern stammen aus der türkischen Schwarzmeer-Region, sie ist AMS-Mitarbeiterin, hat Deutsch und Theologie studiert. Als ich sie treffe, ärgert sie sich gerade über einen versuchten Brandanschlag zweier kurdischer Burschen auf ein Lokal der „Grauen Wölfe“ in Wels. „Genau sowas wollen wir verhindern. Wir wollen die Jugendlichen weg von der Straße holen, sie beschäftigen, mit ihnen lernen. Nach solchen Aktionen stehen wieder alle Kurden als Terroristen da“.
Der Welser Verein bietet neben seiner Kulturarbeit auch Deutschkurse für Flüchtlinge an. „Da kann jeder kommen, egal woher“ versteht sich.
Tanzen und sterben
In der Türkei sind kurdische und alevitische Kultureinrichtungen und Veranstaltungen seit jeher Zielscheibe rechtsextremer und islamistischer Fanatiker. Newroz, das kurdische Neujahrsfest, läuft selten ohne Todesopfer ab. „Sicherheitskräfte“ versuchten die Feiern zu unterbinden und politisierten sie damit umso mehr. Der jüngste Waffenstillstand zwischen Regime und PKK endete im Sommer des Vorjahres nach einem Massaker des IS an linken Jugendlichen in einem Kulturpark. Im Oktober 2015 starben 102 auf einer Demonstration tanzende Menschen in Ankara beim bislang schlimmsten Attentat in der Geschichte der Türkei. Dieser Tage kamen Dutzende bei einer Hochzeitsfeier in Gaziantep ums Leben. Kulturelle Praxis, Tanzen, Lesen, Musizieren, Feiern kann einen hier schnell ins Grab bringen, ins Krankenhaus oder ins Gefängnis. Jede öffentliche Manifestation kurdischen Kulturschaffens ist mittlerweile ein Risiko. Und das nicht nur in Anatolien. Erst Ende Juni wurde eine tanzende Kurdin in Linz von einem türkischen Faschisten mit einer Glasflasche niedergeschlagen und schwer verletzt. Der Linzer Bürgermeister Luger forderte daraufhin ein Verbot kurdischer Kundgebungen.