Kulturarbeit in Ostfriesland

Ein spielerischer Befähigungsansatz mit Mehrwert

Das European Network of Cultural Centres (ENCC) lud Ende 2013 zur Jahreskonferenz nach Murcia-Spanien. Vicy Schuster und Klemens Pilsl von der KUPF unterhielten sich am Rande des Treffens mit der ostfriesischen Kulturwissenschafterin Beate Kegler, die am Kongress eine Keynote zu ländlicher Kulturarbeit präsentierte. Im Rahmen des Interviews gab die profunde Expertin Einsicht in ein Leben zwischen Wissenschaft, Kulturarbeit sowie Familie und skizziert dabei ein Bild ländlicher Kulturarbeit, das durchaus repräsentativ für viele europäische Regionen scheint. Im folgenden ein Auszug aus dem Gespräch, eine Audiofassung des gesamten Interviews ist via CBA anhörbar.

Magst du dich bitte kurz vorstellen?

Beate Kegler, ich komme aus Ostfriesland und arbeite da seit ungefähr zwei Millionen Jahren in der freien Kulturszene, überwiegend im Management. Vor allem in einem Gebiet mit 19 ganz kleinen Dörfern mit 100 bis 500 EinwohnerInnen, vor allem in dezentral organisierter Form. Meine KollegInnen und ich sind in die Dörfer gegangen, um mit den Menschen über den Horizont zu fliegen und gemeinsam zu sehen, was vor Ort gemacht werden kann. Außerdem haben wir zusammen mit den Menschen viele internationale Projekte gemacht.
Im Moment arbeite ich die halbe Woche bezahlt und die halbe Woche unbezahlt für eine Kulturorganisation in einer kleinen Stadt, die mit behinderten und nicht behinderten Menschen Kulturarbeit macht. Wir haben soeben ein großes EU-Projekt beendet, waren mit vielen Leuten in Kontakt, haben viel gelernt und hatten viel Erfolg. Im Nachhinein werden wir auf einmal ernst genommen – wenn wir Geld von Europa bekommen, dann muss das wohl was Gutes sein. Nebenbei promoviere ich zum Thema Sozio-Kultur in ländlichen Räumen.

Was sind die speziellen Eigenheiten von Kulturarbeit am Land im Vergleich zu Städten oder Metropolen?

Hauptunterschied ist, dass man am Land ganz dicht am Leben der Menschen ist. Nicht nur an deren kulturellen Interessen, sondern wirklich am ganzen Leben. Die Prozesse, die am Land in diesen sozialen Gemeinschaften passieren, bewirken viel mehr –  wenn da 50 Leute woanders einen Arbeitsplatz suchen müssen und das Dorf verlassen, dann ist die ganze Sozialstruktur verändert!
Ich glaube, dass sich eine neue Aufgabenstellung für ländliche Kulturarbeit ergibt, sobald man sich innerhalb dieses Mikrokosmos der Sozialstruktur bewegt. Die Kulturarbeit in den Dörfern hat die Möglichkeit stabilisierend und gestalterisch zu wirken. Man kann die Menschen befähigen, darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft man leben möchte. Also Kulturarbeit als Befähigungsansatz, das geht weit über Veranstaltungsprogramme hinaus.
Wenn ich mir die Kulturzentren der freien Szene in Deutschland ansehe, dann passiert da viel im Veranstaltungs- und Party-Bereich oder auch nur noch in Projektarbeit. Das sind längst keine Keimzellen von gesellschaftlicher Veränderung mehr, da finden viele Partys statt, damit die Häuser sich überhaupt halten können.
Derartige Zwänge haben die ländlichen Kulturzentren oft gar nicht so. Sie müssen natürlich auch ums Geld kämpfen, aber sie haben einfach eine ganz andere Aufgabenstellung. Bei uns in der Region gibt es keine Schule mehr im Dorf, allenfalls die Bushaltestelle, wo man sich zum Vorglühen trifft. Aber mehr ist da an Kommunikation auch nicht. Wenn es keine Kulturorganisationen gäbe, säßen wir in einer Neubausiedlung am Rande des Dorfes und würden in den Fernseher gucken. Es ist eine große Aufgabe, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten, den Wandel zu begleiten oder überhaupt das einzige Angebot an Aktivierung und ein Motor für Partizipation zu sein.
Das Mittel der Kulturarbeit ist natürlich passend für all diese Aufgaben. Ich kann es natürlich auch mit politischer Bildung versuchen, aber da kommt ja freiwillig keineR hin. Wenn ich aber dabei Spaß haben, feiern und auf der Bühne stehen kann und sich hier echt was richtig Tolles bewegt – dann ist das sehr viel positivere als darüber nachzudenken, welche Partei ich wählen könnte.

Die gesellschaftlichen Funktionen, die du von Kulturarbeit skizziert hast, haben vor wenigen Jahrzehnten tatsächlich noch Kirchen, Parteien, der Stammtisch und der Sportverein inne gehabt. Wird es die Kulturarbeit besser machen?

Anders. Kulturarbeit ist spielerischer. Man kann mit Möglichkeiten spielen, ohne sich auf eine Richtung festlegen zu müssen. Man muss das nicht so ernsthaft betreiben.
An einem Beispiel: Wir hatten ein Projekt, da ging es um Auswanderung nach Iowa. So Neunzehnhundert-irgendwas sind nämlich viele Ostfriesen nach Iowa ausgewandert und haben da bis heute ostfriesische Gesellschaften, spielen mit ihrer regionalen Identität und sind sehr traditionell. Wir haben dazu ein Musical produziert und sind mit über 100 Leuten nach Iowa geflogen, um es vor diesen traditionellen Ostfriesen aufzuführen.
Das hatte den Effekt, dass man sich damit beschäftigt, warum Menschen aus ihrer Heimat weggehen. Und was bedeutet Heimat? Was bedeutet vor allem Heimat, wenn ich woanders bin? Und plötzlich änderte sich das Bild der Zugezogenen in Deutschland, der Deutschrussen oder der Kosovo-Albaner, die auch aufs Land kamen. Warum sprechen die ihre Sprache? Na ja, das ist ja in Iowa auch nichts anderes, die sprechen bis heute Plattdeutsch und sind stolz drauf.
So kann man durch spielerischen Zugang ganz neue Welten eröffnen. Das ist beim Fußball oder beim Stammtisch nicht so leicht möglich – dort bewegst du dich in einem relativ festen Raum, der wenig Platz für neues Denken zulässt.  

Wie ist die Politik der freien Kulturszene gegenüber eingestellt?

Also je schwarz, desto schwierig. Wir haben jetzt in Niedersachsen eine rot-grüne Regierung, da öffnen sich viele Türen. Aber bereits die Vorgängerregierung hat erstmalig den Nutzen von Sozio-Kultur erkannt.
Wir sind es gewohnt, dass man das Geld immer selber beschaffen muss und dass man mit einem Minimum an Ausstattung zurechtkommt, oder auch ohne. Und selbst dann noch Projekte macht, wenn man nicht mehr weiß, wie der Kühlschrank zu füllen ist. Das ist natürlich insgesamt billiger, als wenn man die Staatstheater und die Hochkultur fördert. Das war auch den Schwarzen klar, dass das nicht so schlecht ist. Außerdem werden sie ja zunehmend konfrontiert mit sozialen Problemen. Und man hat in der Kulturarbeit, also in der Sozio-Kultur jemand gefunden, der sich seit Jahren dieser Probleme annimmt.
Wenn ein Bürgermeister das Gefühl hat, es kommt mit Kulturarbeit zur Geltung, seine Kinder sind eingebunden oder er oder sie selbst steht mit auf der Bühne – dann ist alles relativ einfach. Aber wenn jemand den Stammtisch besser findet und mit Kultur nicht viel am Hut hat, dann kann es manchmal schwierig sein.
In Deutschland sind ganz viele kleine Kommunen im Entschuldungsprogramm, die dürfen nichts ausgeben. Da die Kulturarbeit überwiegend von den Kommunen gefördert wird, gibt es dann auch kein Geld. Das Land sagt wieder: Projektförderung ja, aber institutionelle Förderung nein. Wir haben daher immer versucht, den Bürgermeistern eine Rolle im Theaterstück zu geben, damit sie uns gut finden. Oder zumindest die Frau oder den Gatten oder die Kinder mit einzubinden, das sind ganz menschliche Dinge.  

Du bist einerseits angestellt, andererseits viele Stunden ehrenamtlich tätig. Woher nimmst du die Motivation für dein Engagement und dein besonderes Lebenskonzept?

Es ist so, dass wir in unserer Familie schon mehrere Modelle gelebt haben. Und wir haben gesehen, dass wir am glücklichsten Leben, wenn wir von dem überzeugt sind, was wir tun. Und wenn wir das mit Herzblut tun können und sich das auf die Familie auswirkt! Das ist immer dann passiert, wenn wir das Gefühl hatten, etwas bewegen zu können.
Wir hatten einen Kongress, da ging es um die Motivationen ländlicher Kulturarbeit. Das hat ein bisschen was mit „In der Provinz bin ich der Prinz“ zu tun – denn da sehe ich, was ich bewege. Das ist ein gutes Gefühl. Ich muss am Land nicht durch 1000 Instanzen, ich muss nicht 1000 Menschen überzeugen, sondern ich kann im ganz Kleinen anfangen und viel ausprobieren. Wenn sich Menschen dafür begeistern, dann wird das weitergehen. Das ist in der freien Kulturszene viel einfacher als in gesettelten Institutionen.
Mir und meiner Familie hat das immer großen Spass gemacht – alle meine Kinder und mein Mann und auch Oma und Opa waren ja immer mit einbezogen. Es gibt bei uns keine Trennung zwischen bezahlt und nicht bezahlt. Wenn etwas gerade wichtig ist, dann machen wir das und hoffen, dass irgendwie das Geld woanders herkommt. Das ist nicht immer leicht, aber anders möchte ich nicht mehr arbeiten. Es gibt natürlich auch Tage, an denen es schön wäre, wenn ich Geld für andere Dinge hätte und den Kindern problemlos die Klassenfahrt zahlen könnte. Aber Kulturarbeit ist eben so eine Herzblut-Geschichte.  

Das gesamte Interview als Audiofile im Podcast: http://cba.fro.at/254088

 

 

Als Reaktion auf dieses Interview hat uns am 29. Mai 2014 eine Gegendarstellung des Vorstands und der künstlerischen Leitung von Theartic erreicht.