Gemeinschaftsgärten beleben ungenützte Grünflächen in der Stadt mit einer neuen Funktion und holen die Menschen aus der Umgebung dort hin. Beim gemeinschaftlichen Gärtnern entsteht Raum für spannende Begegnungen, kollektives Wissen, Ernährungssouveränität und interkulturellen Austausch. An die Stelle von anonymer Nachbarschaft tritt ein gemeinsames Gestalten und Aktivieren im Stadtviertel.
Auf einer Reise in den Irak – dem Heimatland ihrer kurdischen Eltern – versteht Fatima Abid, dass ihre Identität eine multiple ist. Die damals 14jährige Gesamtschülerin wuchs in den Internationalen Gärten Göttingen auf, dem ersten interkulturellen Gartenprojekt in Deutschland. Seit 1995 können hier Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gemeinsam mit Einheimischen aus allen sozialen Schichten Obst und Gemüse anbauen, sich über Saatgut und Zubereitungsformen austauschen und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen aushandeln.
Fatima ist überzeugt, dass ihr Leben ohne die Gärten ärmer verlaufen wäre. Früher, als sie gerade zu sprechen begann, versuchte sie immer, ihre Mutter zu überreden, mit ihr auf die Straße zu gehen. Aber die Mutter antwortete regelmäßig: «Wohin sollen wir gehen ? Wir haben keine Verwandte hier und keine Freunde, die wir besuchen könnten.» Dann kamen die Gärten, und alles änderte sich. Fatima verfügt nun über eine neue, internationale Wahlverwandtschaft, in der sie lernt, was es für Flüchtlinge in Deutschland bedeutet, sich selbst versorgen zu können, Überschüsse zu verschenken, sich als Gebende wahrzunehmen, statt, wie sonst oft üblich, als abhängig und nehmend. Auch mal Überfluss erleben und feiern zu können, statt immer nur mit knappen Mitteln wirtschaften zu müssen. Fatima lernt früh den Unterschied zwischen Selbstgemachtem und Gekauftem, zwischen hochwertigem Biogemüse und weit gereister Massenware. Sie erlernt die Bedeutung des Zubereitens von Mahlzeiten im öffentlichen Raum, sie lauscht den Geschichten, die über Zucchini und Postelein, über Kichererbsen und Pfefferminze erzählt werden. Erzählungen der Kindheit, Lieder der vielen Heimaten, die in den Gärten wiederauftauchen.
Was tun Migrantenkinder, denen diese Möglichkeiten fehlen ? Die die Stimmen ihrer Eltern im öffentlichen Raum als nicht resonanzfähig wahrnehmen ? Die ihre womöglich erwerbslosen Eltern als abwartend, als unproduktiv oder als unausgelastet erfahren ? Als Eltern, die vergeblich auf ihre Chance warten. Welche Vorbilder formen sich in den Köpfen dieser Kinder und welchen Wert schreiben sie ihrer Herkunft zu ?
Fatima wächst in den Internationalen Gärten zu einem selbstbewussten Mädchen heran. Als Kleinkind beobachtet sie ihre Mutter stundenlang beim Anbau von Kräutern und Gemüse. Irgendwann teilt die Mutter ein Stück Parzelle ab – und das Mädchen baut seine eigenen Tomaten und Erdbeeren an. Schnell wird mehr daraus. Heute gibt es in den meisten Interkulturellen Gärten eigene Kinderbeete.
Sie sind die Basis vieler Umweltbildungsaktivitäten und der gemeinsame Sozialraum, in dem sich das Miteinander verschiedener Altersgruppen entfaltet. Hier werden Verhandlungen über Grund und Boden geführt, komplexe Wechselspiele zwischen Tieren, Pflanzen und Menschen gedeutet, wird Wissen weitergegeben, Natur beobachtet und es werden Ernteerfolge bewundert.
Im Rahmen der vielfältigen Aktivitäten in den Gärten kommen Kinder wie Erwachsene immer auch mit der Gesamtgesellschaft in Berührung, so etwa mit dem in Deutschland rechtlich verankerten Umweltschutz, der zum einen als konkreter Gegenstand, gleichzeitig aber auch als Medium zum Verstehen von Gesellschaft fungiert. Das institutionelle Geschehen wird durch die eigene Praxis in diesem Rahmen insgesamt transparenter; die symbolische Ordnung, das kulturelle Normen- und Kommunikationssystem werden sukzessive erfahr- und verstehbar. Über diese Formen der Teilnahme und Teilhabe aus dem zunächst überschaubaren Raum der eigenen Gartenpraxis heraus wird echte Partizipation möglich.
Eine solche Praxis, in der Lernprozesse durch aktive Gestaltung statt über theoretisch-abstrakte Zugänge stattfinden, hilft den MigrantInnen nicht nur, sich selbst sozial und identitär neu einzubetten, sie leistet auch einen bedeutenden Beitrag zu einer pluralen Zivilgesellschaft, in denen die Fähigkeiten und Kenntnisse aller fruchtbar gemacht werden.
zum Weiterlesen:
Christa Müller (Hgin.) (2011): Urban Gardening. übber die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München: oekom.
Christa Müller (2002): Wurzeln schlagen in der Fremde. Die Internationalen Gärten und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse. München: oekom.