Ein Kommentar zur Wahrnehmungspolitik

Die Diskussion zum neuen Linzer Theater erhitzt sich durch die Fördersituation, die monumentale Bauweise, die Spielplanpolitik und allgemein gesprochen durch Machtdemonstration der „Hochkultur“ gegenüber der „Freien Szene“. Seit Jahren kann eine zunehmende Kluft zwischen Gesellschaft und Theaterbetrieb diagnostiziert werden. Ein Kommentar von Theaterwissenschaftlerin Julia Müllegger.

Unter anderem wird als Grund dafür angeführt, dass zahlreiche Konflikte, die sich dramatisiert, bzw. in theatralen Formen darstellen ließen, am Theater nicht thematisiert sind, weil v.a. die Stadttheaterbetriebe zunehmend außerstande sind, auf Zeitgeschichtliches angemessen zu reagieren.

Auch beim Blick auf den Spielplan der Eröffnungssaison des neuen Musiktheaters in Linz besticht vor allem das Missverhältnis der vom Theater behandelten Stoffe und der Zuschauerinnenrealität. Dieses scheint in einem solchen Grad gewachsen, dass unmittelbar eine Zerreißprobe bevorsteht. Ungeachtet dessen wird ein neues Haus mit allen bühnentechnischen Schikanen ausgestattet, um möglichst jede Inszenierungsform zu erlauben. Die institutionelle Grundlage – kulturpolitische Repräsentation bei hohen Subventionen – bestimmte den Aufwand und nicht vorhandene künstlerische Substanz. Überwiegend wird weiter von Guckkastenbühne und Podiumsbühne Gebrauch gemacht und es bleibt außer Acht gelassen, dass künstlerische Impulse oftmals nicht von den prestigeträchtigen Prachtbauten ausgehen, sondern von kleineren, vergleichsweise schlecht ausgestatteten Bühnen, in denen sich das Theater immer wieder als Störung ausprobiert.

Der politische Einsatz des Theaters liegt aber nicht allein in den Themen, sondern in den Wahrnehmungsformen. Dabei ist grundlegend festzuhalten, dass seiner Praxis nach das Theater, die Kunst des Sozialen schlechthin ist. Die Politik des Theater gründet in der Art und Weise der Zeichenverwendung und ist daher Wahrnehmungspolitik, die die Auseinandersetzung mit dem Tabu nicht verweigern kann. Das Tabu als eine sozial verankerte Reaktionsform ist ein Affekt vor aller Vernunftbewertung und scheint durch die Rationalisierung und Entmythologisierung der Welt quasi verschwunden zu sein. Angenommen, diese Entwicklungen sind mitverantwortlich für die Einschläferung der dringend benötigten humanen Reflexe, die Bedingung für eine rechtzeitige Reaktion sein könnten, dann fällt der Kultivierung des Affektiven wachsende Bedeutung zu. Denn die Nichtbeachtung intuitiver Regungen zugunsten ökonomischer Zweckrationalität mündet jetzt schon in unaufhaltsamen Katastrophen.

Wie Lehmann in Das postdramatische Theater feststellt, wird es zunehmend die Aufgabe der «theatralen» Praktiken werden, spielerische Situationen herzustellen, in denen Affekt freigesetzt wird.(1) Im Zeitalter der Rationalisierung fällt dem Theater die Rolle zu, mit Extremen des Affektes umzugehen, die die Möglichkeit des verletzenden Tabubruches beinhalten. Diese Situation zu schaffen, wäre Aufgabe eines neuen Musiktheaters. Zuschauerinnen müssen vor das Problem gestellt werden, sich zu dem, was in ihrem Beisein geschieht, zu verhalten.

Der Zustand der Distanz ist aufzugeben, der durch die ästhetische Differenz zwischen Saal und Bühne gesichert schien. Der Affekt ist das, was mich (be)trifft. Diese Perspektive ist nicht neu, aber hilfreich, um die Effekte, die bisher politisch oder ethisch, ästhetisch oder sexuell genannt wurden, in einem Bereich zu vereinen und diese nicht aus Repräsentationsgründen von der figurativen Qualität eines Kunstwerks abhängig zu machen. Der Begriff des Affekts besitzt gegenüber demjenigen der Repräsentation theoretische Vorteile und hat er den Vorzug, die Analyse der Handlungsfähigkeit von Kunst voranzubringen. Deutlich ist, dass der Affekt viele Unterscheidungen und Akzentuierungen erlaubt, und darin der Feinheit der Nuancierungen entspricht, die das Kunstwerk uns abverlangt. Dabei werden die Bereiche der Welt nicht von ihrer sinnlichen Einbezogenheit in dieselbe getrennt.

 

(1) vgl. Lehman, Hans-Thies: Das postdramatische Theater, S. 472. 
 

 

 

Verwendete Literatur:

  • Lehman, Hans- Thies: Das postdramatische Theater, insbesondere S. 469ff.
  • Bal, Mieke: Einleitung: Affekt als kulturelle Kraft. In: Krause-Wahl, Antje: Affekte: Analysen asthetisch-medialer Prozesse. Transcript, 2006, S. 7–19. 1 vgl. Lehman, Hans-Thies: Das postdramatische Theater, S. 472.