…sei jener Unterschied, dass die Fiktion einen Sinn zu ergeben habe. Zugeschrieben wird diese Aussage dem Schriftsteller Tom Clancy oder, je nachdem, welcher im Internet angeführten Quelle man mehr Glauben schenken möchte, natürlich auch Mark Twain (welches Zitat wird ihm eigentlich nicht untergejubelt?). Die hier verwendete Quelle ist ohnehin nicht der Literatur entnommen, sondern stammt aus einer Spielfilmproduktion, in der das Statement von Armin Müller-Stahl unter der Regie von Tom Twyker zum Besten gegeben wird. Die sicher zu widerlegende These, dass beinahe jedem gedrehtem Film etwas Positives abzugewinnen ist, fand sich durch besagten Dialoginhalt bestätigt… Bestens passend übrigens zu einer anderen Textstelle (doch glatt von Mark Twain), in der es heißt, dass die Wahrheit befremdlicher sei als die Fiktion, da letztere im Vergleich zur Realität an wiedererkennbaren Möglichkeiten festhalten müsse. Es bleibt die Frage, ob die beiden Zitate in einem direkten Widerspruch stehen mit jener Aussage, die uns rät, nie eine gute Geschichte durch reale Fakten zu verderben (darf ich hier – zweifelsfrei leicht unseriös – Nucky Thompson aus der TV-Serie Boardwalk Empire als Quelle anführen?), oder ob dieses „Never let the truth get in the way of a good story“ obige Postulate nicht vielmehr unterstreicht?
Fiktion versus Realität ist hier so „zitatreich“ eingeführt, weil im Folgenden von imaginären Reisen die Rede ist. Geplant und durchgeführt von nicht minder imaginierten Charakteren. Reisen und Reisende, die in den von Time’s Up über die letzten Jahre hinweg entwickelten „Physical Narratives“ bedeutende, inhaltstransportierende Rollen inne haben. Egal ob sie der Flucht, dem Vergnügen, der Forschung, der Recherche oder grundsätzlich nur der Reisesehnsucht als solcher dienen, gemein ist ihnen, dass sie reale Spuren in den vom Publikum zu erforschenden Räumen hinterlassen, um sie – die Reisen – nachvollziehbar zu machen. Dokumentierte Reisen also, unterschiedlichst in Szene gesetzt, beispielsweise durch eine Handvoll Flugticketabrisse, ein akustisches Reisetagebuch, einem Eintrag im Kalender, eine Expeditionsmitschrift oder durch digitale Fotoalben. Es gibt mannigfaltige Möglichkeiten eine Reise festzuhalten, man denke nur an all die verbleibenden Spuren, die unsere eigenen, tatsächlichen Reisen hinterlassen. Selbst ob sie bereits durchgeführt wurden oder erst bevorstehen, lässt sich manifestieren. All die akribisch nachempfundenen, fingierten Reisedelikte, platziert in den Rauminszenierungen dienen einem übergeordneten Spannungsbogen einer Erzählung und helfen dem Publikum als greifbare Objekte, als Medieninhalte oder als festgehaltene Notizen eine im Raum eingeschriebene Geschichte zu montieren.
Zusammengestellt hat Time’s Up fiktive Reiserouten und -erlebnisse einzelner Charaktere für eine im und durch den Raum inszenierte Science-Fiction Story, eine Familiensaga und eine Kriminalgeschichte rund um eine Reihe von Bank- und Museumseinbrüche. 20 seconds into the Future, Unattended Luggage und Im Tresor – Der Schein trügt. Bei Unattended Luggage schicken wir alle fünf repräsentierten Familienmitglieder auf Reise. Beweggründe sowie Ziele sind unterschiedlichster Natur. So war es beispielsweise die Urgroßmutter Aimee Freudenstein, die sich gezwungen sah, das restriktive Deutschland der 1930er Jahre zu verlassen. Ihre Tochter Cecilia wiederum entschied sich aus freien Stücken für eine in der Hippie-Ära begonnene Weltreise, die sie je nach Vorliebe und politischer oder finanzieller Lage verschieden lang an Orten in Südamerika, Afrika, Europa und Asien verweilen liess. Wohingegen sich Cecilias Sohn David ganz grundsätzlich entschloss, auszuwandern um anderswo sesshaft zu werden. Bei 20 Seconds into the Future ist es Hendrik Kardigan, der sich Reisen in die Zukunft versucht zu ermöglichen, nicht ohne auch in der Gegenwart regelmäßig zwischen Österreich und Windhoek in Namibia zu pendeln. Und eine Crew von Dieben bei Im Tresor – der Schein trügt ist ohnehin konstant in Bewegung, um das Geheimnis der magischen Kräfte der goldwurzeltragenden Sapote zu lüften und so dem kapitalistischen Finanzwesen ein Ende zu bereiten. Hier sind es Tom Flitter, Ludmilla Laskovic, Jamie Crux und punktuell auch Konrad Strauch, die sich höchst trickreich und gänzlich gewaltfrei durch eine Reihe von Museen und Banken in Kanada, den Vereinigten Staaten von Amerika, Mexiko, Großbritannien und Österreich stehlen.
Fiktive Reisen im Vergleich zu real geplanten, verführen durch deren Unbekannte und Variable zu äußerster Akribie. Unabhängig von der schlussendlich dramaturgischen Bedeutung einzelner Reisen im Verbund der finalen Inszenierung wurde jeder erdachte Trip zu etwas sorgsam Recherchierten. Alle „reisen-repräsentierenden“ Bausteine bedürfen einer stimmigen Kohärenz, einer Wirklichkeits- und Möglichkeitsnähe, müssen – um neuerlich das eingangs erwähnte Zitat ins Spiel zu bringen – an wiedererkennbaren Möglichkeiten festhalten.
Infolgedessen galt es, die gewählten Routen, deren Daten und Dauer mit resultierenden, wiedererkennbaren Spuren zu versehen. Es wurden Flug- und Routenplaner, Ankunftshäfen per Schiff, Bahn oder Flugzeug recherchiert und manipuliert. Variable aus existierenden Fluglinien, Reedereien, Autovermietungen, Fahrpläne städtischer Verkehrsmittel, etc. bestimmten Chronologien der Reisen. Politische (sowohl historische als auch gegenwärtige) oder wirtschaftliche Gegebenheiten dominierten die gewählten Routen. Reale Stadtpläne und Landkarten samt Standorte für Museen, Unterkünfte, Bankinstitute, Grabungsstätten, etc. gaben Destinationen und Anlaufstellen vor. Es entstand eine Fülle von Materialien, die in manipulierter Form die imaginierten Reisen im Raum verkörperten. Ob nun als Sammlung fingierter Zeitungsausgaben, deren Publikationsdatum und -ort Routen als auch Gründe eines Aufenthalts verrieten, als Ticketsammlungen öffentlicher Verkehrsmittel, datierten Foto- und Videoaufnahmen, die Zeitpunkt und/oder Dauer transportierten oder als verfremdete geologische Landkarte über Goldvorkommnisse, die in Verbindung mit einem Expeditionstagebuch aussagekräftige Informationen lieferte.
Phantasievoll und realitätsnahe zugleich – das ist der Reiz am „Fabulieren“ von Reisen. In den Momenten des „Erfindens“ werden sie wahr. Werden gelebt. Egal ob sie in der Vergangenheit spielen, in die Zukunft schweifen oder in der Gegenwart verankert sind, sie nehmen einen mit, an genau jene Orte, deren Besonderheiten man gerade recherchiert, um sie gewissenhaft in die „Physical Narrative“ einzubinden. Egal ob Heist, Familiensaga oder Science Fiction Story. Und glaubt man den stichartig erfragten Reaktionen des Publikums, so konnte auch dieses verführt werden, an die Reisen zu glauben. Also: Auf in die nächste Fiktion rund um die Welt, um die Chance zu bekommen, real in der Welt zu reisen, um die „Physical Narratives / Begehbaren Erzählungen“ auszustellen.
http://timesup.org/stored-bank-vault
http://timesup.org/UnattendedLuggage
http://timesup.org/content/20-seconds-future
Time’s Up ist ein im Linzer Gewerbehafen angesiedeltes Labor für die Konstruktion experimenteller Situationen.