Die feinen Unterschiede

Franz Fend legt ein Buch von Elisabeth Katschnig-Fasch ans Herz.

 

Es gilt ein Buch zu würdigen, das sich mit den Folgen des neoliberalen Umbaus unserer Gesellschaft und den daraus resultierenden Leiden auseinandersetzt. Die Herausgeberin von ?Das ganz alltägliche Elend ? Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus? ist Elisabeth Katschnig-Fasch, ihres Zeichens Professorin am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz.

Schon der Titel der Arbeit lässt Parallelen zur großen französischen Gemeinschaftsarbeit unter der Leitung von Pierre Bourdieu ?Das Elend der Welt ? Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft? erkennen. Die Herausgeberin der Grazer Arbeit nimmt in ihrem Vorwort bereits Bezug auf das französische Vorbild. Dieses beruhe auf komplexer und ausgefeilter theoretischer Komposition, so Katschnig-Fasch. In der Tat, bereits der Titel signalisiert fundamentale Unterschiede: Ist im Werk Bourdieus von ?Diagnosen? die Rede, das heißt, dass auf hohem Niveau Analyse und Ursachenforschung betrieben worden ist, so bleibt das Grazer Pendant bei einer Beschreibung der Phänomene mit großem moralischem Gestus. Es ist gegen den moralischen Gestus nichts einzuwenden, denn die zeitgeistig hippen Kritiker der Moral wollen mit ihrem Ansatz ohnehin nur den Status quo zementieren. Doch bleibt die Moral isoliert und bar jeder Analyse, so erscheint dies als Defizit der vorliegenden Arbeit.

Die Auswirkungen des neoliberalen Zuschnitts des Kapitalismus werden detailreich beschrieben. Der Rückzug des Staates von den Leistungen des öffentlichen Dienstes, des Sozialwesens und der Bildung wird beklagt. Das Fehlen einer aktiven Beschäftigungspolitik betrauert, die Privatisierung von staatlichem Eigentum und Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen kritisiert. Der Staat wird als das beschrieben, was er immer schon gewesen ist, ein ideeller Gesamtkapitalist, der für effiziente Verwertungsbedingungen des Kapitals zu sorgen hat. Gesagt wird es in dem Buch aber nicht. Denn das Grazer ?Elend? ist in erster Linie von EthnologInnen, KulturwissenschafterInnen, VolkskundlerInnen, AnthropologInnen und ähnlichen erarbeitet worden. Das hat zur Folge, dass einer der wesentlichen Kritikpunkte dieses Buchs, der Verlust der kulturellen Identitäten durch die neoliberalen Umwälzungen ist. Dabei ist doch die kulturelle Identität eines jener ideologischen Konstrukte, welche die neoliberale Zurichtung des Menschen vorbereitet hat. Denn die zurecht kritisierte Individualisierung ist doch ein Resultat des ?Kampfes um kulturelle Identität?. Aber das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass eine der Auftraggeberinnen für diese Studie Moraks Kulturstaatssekretariat ist.

Die Herausgeberin hebt hervor, dass im Wettlauf um die eigene Sicherheit, Intoleranz und Diskriminierungen nach sozialer Zugehörigkeit, nach Geschlecht und Alter an Gewicht gewinnen. Hier muss man ihr zustimmen, wenn es auch keiner wissenschaftlichen Arbeit bedarf, diese Erkenntnis zu gewinnen. Die empirischen, ökonomischen und ideologischen Begründungen für diese These bleibt das Team überdies schuldig. Wenn sie attestiert, dass die Spaltung der Gesellschaft nicht mehr zwischen hoch und niedrig Qualifizierten verlaufe, sondern mitten durch die Bevölkerung gehe, so ist dies ein weiteres Manko dieser kulturalistischen Herangehensweise. Der Bildungsgrad war immer eine sekundäre Ursache der Differenzierung der Gesellschaft. Ältere Thesen, dass Gesellschaften nach der Stellung der Menschen zu den Produktionsmitteln gespalten werden, scheinen griffiger.

Anhand von 23 Lebensbildern versuchen die AutorInnen die Auswirkungen der aktuellen Veränderungen und die Wirkung der sozialen Position auf die Lebenszusammenhänge der Menschen zu skizzieren. Vom Schuldirektor über einen nicht pragmatisierten Lehrer bis zur Universitätsassistentin; von der Künstlerin bis zum Hausmeister, von der Putzfrau bis zum Sozialarbeiter in der MigrantInnenszene reicht die Palette der Interviews.

Im Gegensatz zum französischen Vorbild, das von einem Team von etablierten Sozialwissenschaftern erarbeitet worden ist, haben in Graz auch viele Studierende mitgearbeitet, die oft fürbass erstaunt schienen, wenn sie mit Leuten aus dem ?wirklichen Leben? zusammengetroffen sind. Dass der interviewte Hausmeister Tätowierungen am rechten Oberarm trug, wird vom Volkskundler Manfred Omaha scheinbar als Beweis, dass er wirklich mit einem Hausmeister gesprochen hat, angeführt. Wenn dann noch wissenschaftlich festgehalten wird, dass ein Hausmeister Ansprechpartner für Klatsch und Tratsch ist, so möchte man dem Forschungsteam raten, sich vorher einige Folgen von ?Ein echter Wiener geht nicht unter? oder ?Kaisermühlenblues? anzusehen, dann wäre die Naivität, mit der diese Arbeit begonnen worden ist, nicht ganz so groß gewesen.

Die Kunsthistorikerin Bettina Messener hat unter anderem ein Interview mit einer Künstlerin (?Ihr rotes, gewelltes Haar umgibt ihren Kopf wie eine Flamme?) geführt. Im Einleitungstext führt sie einige Fakten an, die zwar nicht neu sind, aber wohltuend, dass sie wieder einmal gesagt werden. Nämlich, dass das Konzept der europäischen Kulturhauptstadt als Wirtschaftsfaktor für die Standortpolitik diene, dass die Kulturhauptstadt eine Umverteilung der Ressourcen von unten nach oben im Kunstfeld gebracht habe. Dass die Fähigkeiten, die in der Kunstszene gefordert und gelernt werden, wie projektorientiertes Arbeiten fern von strukturierten Dienstverhältnissen, dass Künstlerinnen ihre ?Seelen? in die Arbeit einbringen und dass diese Fähigkeiten von modernen Managern heut gesucht sind. Und: Die Kunstszene ist eine Vorreiterin in Sachen Deregulierung, das sollte man nicht aus den Augen verlieren. ?Der heroische Künstler der Avantgarde von gestern wird der Streikbrecher von morgen.? Dazu gibt es nichts zu sagen.

Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus; Löcker Verlag, Wien 2003 ISBN 3854093837, 416 Seiten, EUR 32,90