Be-, An- und Einklagen

Das Kölner NSU-Tribunal ist ein Paradebeispiel für Gerechtigkeit als zivilgesellschaftliche Aufgabe. Was unsere gegenwärtigen Rechtsprechungen von den NSU-Tribunalen generell lernen könnte, umreißt Madlyn Sauer.

Das Kölner NSU-Tribunal

Im Mai 2017 berief das Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen! sein erstes Tribunal am Schauspiel Köln ein. In der zeitlichen Parallelität zum offiziellen NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München positionierte sich das Tribunal zum einen als Gegen-Prozess, andererseits forderte es mit seiner Vision der Gesellschaft der Vielen einen radikalen gesamtgesellschaftlichen Wandel. Über 3.000 Menschen kamen zusammen, um der Mordopfer Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter und der Verletzten der Bombenanschläge zu gedenken, die das rechtsterroristische Netzwerk Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zwischen 1999 und 2011 verübt hatte. Die Idee eines Tribunals entstand zwei Jahre zuvor, als absehbar wurde, dass auch der Münchener Gerichtsprozess die versprochene Aufklärung nicht einlösen und Gerechtigkeit nicht herstellen würde. Die Herausforderung lautete, die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und Empathie für die Opferfamilien (neu) zu erwecken sowie den Betroffenen des NSU-Komplexes eine öffentliche Plattform zu bieten, auf der sie frei und selbstbestimmt über sich selbst sprechen konnten.

Tribunale als zivilgesellschaftliches Instrument

Das Kölner NSU-Tribunal ist Teil der weltweiten Geschichte nichtstaatlicher Prozesse, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen, Nichtregierungsorganisationen und Opferfamilien organisiert werden. Im Namen der Menschen- und Völkerrechte gehen sie gegen Verbrechen und Ungerechtigkeiten vor, die von staatlichen Institutionen, Regierungen, Militär, internationalen Organisationen oder Unternehmen begangen werden. Dazu gehören die berühmten Russell-Tribunale zum Vietnam-Krieg, die Kongo-Tribunale, oder das Internationale Iran-Tribunal. Alle teilen eine juristische Perspektive, d. h. ihre Verfahren gründen auf rechtsstaatlichen Prinzipien und wenden geltendes Recht an.

Juristisches Verfahren oder künstlerischer Aktivismus?

Für die Juristin Gabrielle Simm liegt der Unterschied zwischen Tribunalen und einer öffentlichen Rede auf einer Kundgebung zum Beispiel gerade in der juristisch korrekten Beanspruchung des Rechts. Diese Definition ist allerdings schwer auf die NSU-Tribunale zu übertragen. Mehr noch schließt Simms Definition einen Großteil der weltweit zivilgesellschaftlich organisierten Tribunale aus, die in ihren Prozessen traditionelle, restaurative, künstlerische und aktivistische Praktiken und Mittel kombinieren oder wie die NSU-Tribunale zu einem Dreiklang aus Beklagen, Anklagen und Einklagen – aus Erinnern, Aufklären und Anerkennen – verweben.

Anstelle eines juristischen Verfahrens begegnete den Teilnehmer*innen auf dem Kölner Tribunal ein transdisziplinäres, künstlerisches Multi-Format, bestehend aus Elementen von Tribunalen, Wahrheitskommissionen, Kongressen, Ausstellungen, Theater, Protestcamps, Demonstrationen und Festivals. In 38 Veranstaltungen wurde der NSU-Terror als ein mehrdimensionaler Gesamtkomplex und Kristallisationspunkt eines strukturellen Rassismus verhandelt. Statt ein Urteil zu fällen, übergab das Tribunalbündnis seine Anklage der Öffentlichkeit und forderte diese auf, die Anklage mitzutragen, fortzuschreiben und mit den Betroffenen für weitere Aufklärung einzustehen.

Zukunft der Rechtsprechung

Das Tribunalbündnis zog aus dem NSU-Gerichtsverfahren politische Konsequenzen und entwickelte ein transformatives Format, welches offensiv und mutig konventionelle Vorstellungen und Inszenierungen von Tribunalen im Sinne von Strafprozessen hinter sich ließ. Ein kreativer, empathischer und anerkennender Ort der Gerechtigkeit und Solidarität für die Betroffenen entstand und die folgende Devise wurde ausgerufen: «Zuhören ist eine politische Tat!». Daraus könnten gegenwärtige Praxen zivilgesellschaftlichen sowie staatlichen Recht-Sprechens in vielerlei Hinsicht lernen: Beispielsweise einen Verhandlungsraum nicht zentralperspektivisch und darin hierarchisch auf Richter*innen und Jurys auszurichten, sondern wie in Köln opferzentriert und demokratisch. 

«We are the Future in the Present», lautete das Motto der vom Tribunalbündnis ausgerufenen Gesellschaft der Vielen. We are the Future in the Present kann jedoch auch als utopische Ankündigung einer noch in der Zukunft liegenden Rechtspraxis verstanden werden, die im NSU-Tribunal zum Vorschein kommt und uns eine mögliche Antwort auf die Frage gibt: Wer wollen wir sein und wie wollen wir leben?

Lesetipp: Madlyn Sauer, Wir klagen an! NSU-Tribunale als Praxis zwischen Kunst, Recht und Politik, hg. v. Massimo Perinelli, 264 Seiten, Unrast Verlag 2022.