Nicht normal?

Warum gibt es so wenig Kulturangebote für Menschen, die introvertiert sind? Von Florian Walter.

Nun ist also alles wieder beim Alten. Die Gastgärten sind voll, die Einkaufsstraßen gut besucht, die Hotels ausgebucht. Auch im Kulturbereich läuft das meiste wieder wie vor der Pandemie: In den Locations und Clubs drängen sich die Leute. Laute Musik dröhnt aus den Boxen. Es wird getanzt, gefeiert, gesungen und gelacht. Super, oder? Nicht für alle. Denn während viele sich (zurecht) über ihre wiedergewonnenen Freiheiten freuen, kriegen andere Stress. Ich zum Beispiel. Die Vorstellung, wieder Kulturveranstaltungen zu besuchen, macht mir Angst. Dabei liebe ich Musik, lache gerne und mag Menschen. Trotzdem dieses Unwohlsein. Bin ich nicht normal?

Nach außen und nach innen

Als erfolgreich und beliebt gelten Menschen, die gerne gemeinsam in größeren Gruppen aktiv sind; die lautstark und konsequent für die eigene Meinung einstehen; die gerne vor und mit Menschen sprechen; die anpacken können und eigenständig Aufgaben übernehmen; die selbstbewusst, spontan und abenteuerlustig sind. Meist sind das die Menschen, die Veranstaltungen planen und besuchen. Es sind die Extrovertierten, die in der Kulturarbeit so richtig aufgehen.

Extrovertierte Menschen richten ihr Verhalten auf die Außenwelt, gewinnen ihre Lebensenergie aus dem intensiven Kontakt mit anderen (auch fremden) Menschen und halten sich gerne an belebten Orten auf. Introvertierte Menschen haben es dagegen lieber still. Sie gelten in ihrem Verhalten als zurückhaltend und sammeln Energie eher allein oder in kleinen, vertrauten Gruppen und Umgebungen. Für den Psychiater Carl Gustav Jung, der 1921 die Bezeichnungen intro- und extrovertiert eingeführt hat, vereinen sich beide Persönlichkeitseigenschaften in jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung. Es sind Extrempole, alles dazwischen ist für ihn „normal“.

Warum ist die zeitgenössische Kulturarbeit so stark an Extrovertierten ausgerichtet? Weil wir in einer Gesellschaft leben, die expressive Eigenschaften idealisiert, so die Autorin Susan Cain. Sie sieht dies historisch bedingt: Geschäftliche Beziehungen wurden im Zeitalter der Industrialisierung immer weitläufiger und unpersönlicher. Mit wachsender Konkurrenz wurden nur die lautesten Verkaufsargumente gehört. So wurde Selbstdarstellung immer wichtiger, Extraversion zur Norm. Auch der Kulturbereich richtet sich deshalb überwiegend an extrovertierte Menschen. Introversion wird in diesem System zur Persönlichkeitseigenschaft zweiter Klasse.

Kulturarbeit für Introvertierte

Während der Corona-Pandemie haben viele „Introvertierte“ erleben dürfen, dass es auch anders sein könnte. Keine Schlangen an Kassen und Bars, keine lauten Mitbesucher*innen, keine unerwarteten Klogespräche. Bei mir haben die Erfahrungen der letzten zwei Jahre die Frage aufgeworfen, wie Kulturarbeit gestaltet sein könnte, damit auch nach innen gekehrte Menschen mehr Freude daran haben können. Wie können Formate aussehen, die weniger Menschen, weniger Lärm, weniger expressives Verhalten verlangen?

Ich habe diese Frage in mehreren Social Media-Gruppen für Introvertierte gestellt und interessante Rückmeldungen erhalten. Einige Gruppenmitglieder haben angemerkt, dass schon bestehende Veranstaltungsformate Potenzial bieten: Lesungen ziehen meist weniger und auch ruhigeres Publikum an; Ausstellungen finden oft an stillen und weitläufigen Orten statt. Für lautere Events wie Konzerte und Partys wurde angeführt, dass Veranstalter*innen eigene Bereiche für Personen einrichten könnten, die gerne nur die Musik hören wollen. Auch Kopfhörerkonzerte, bei denen nicht nur weniger Lärm entsteht, sondern Gespräche weitgehend unterbunden werden, wurden als Option genannt. Und wer sagt eigentlich, dass Kulturveranstaltungen nicht einmal schriftlich stattfinden können? Schließlich war auch die Stärkung partizipativer, soziokultureller Formate jenseits der klassischen „Aufführungskunst“ ein Thema. Diese können Besucher*innen selbst mitgestalten und sich dadurch die Räume schaffen, die sie benötigen, um sich wohlzufühlen. Falls jemand Lust auf ein Projekt hat, ich wäre dabei.


Literatur:

Susan Cain: Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt, München 2013.