Am See

Ein Dramolett über Gefühle und Gehirne. Von Tamara Imlinger.

Menschen sitzen am Ufer eines Sees, Fische schwimmen darin.

Elternteil: (starrt auf die Fische im See) Die haben nichts zu tun – nur schwimmen, den ganzen Tag.

Kind: Und fressen.

Elternteil: Wachsen.

Kind: Oder sie werden gefressen.

Elternteil: Mir schmeckt kein Fisch.

Kind: Ich habe gelesen, sie können rechnen.

Elternteil: (öffnet die Augen weit) Was, wirklich, rechnen?

Ein Fisch taucht nach oben, öffnet das Maul, frisst etwas, das auf der Wasseroberfläche treibt.

Kind: Die Menschen wissen gar nicht, dass wir rechnen können?

Elternteil: So schlau können die nicht sein.

Kind: Aber ein Gehirn haben sie, ja?

Elternteil: (schwimmt dem Kind nach) Sie glauben, ihres sei irgendwie anders, besser.

Kind: Wozu ist denn das Gehirn überhaupt da?

Elternteil: Wenn du an die Wasseroberfläche tauchst, was macht dein Gehirn dabei?

Kind: (schaut nach oben, hebt den Kopf) Nichts?

Elternteil: (nickt) Aber eigentlich macht es: alles!

Kind: (dreht sich zur Seite) Ich dachte, beim Gehirn geht es ums Denken.

Elternteil: Sein Ziel ist vor allem, zu managen, dass wir überleben.

Kind: Das Gehirn ist eine Managerin?

Elternteil: Genau, es macht ‘Body-Budgeting’.

Kind: (leise) Body-Budgeting.

Elternteil: Stell dir einmal dein Lieblingsessen vor!

Kind: Mmmmh – ja!

Elternteil: Den Geschmack, wie es sich anfühlt –

Kind: (bewegt den Mund auf und zu) Ok!

Elternteil: Dein Gehirn macht gerade eine Vorhersage –

Kind: (schüttelt die Flossen) Was?

Elternteil: Es passiert das gleiche, wie wenn du etwas essen würdest.

Kind: Das ist ja cool, kann man sich so ernähren?

Elternteil: Das wäre schön, wenn es so einfach wäre.

Kind: Aber der erste Hunger geht wirklich weg? 

Elternteil: (nickt) Tatsächlich umgewandelt hast du die Nahrung in Energie erst später, zuerst sagt nur das Gehirn voraus –

Kind: Weil es das schon so oft erlebt hat!

Elternteil: Genau.

Kind: Das muss ich mir merken.

Elternteil: Und wenn einmal die Vorhersage nicht mit dem übereinstimmt, was danach passiert, dann hat das Gehirn zwei Möglichkeiten –

Kind: Merkt es, dass etwas nicht stimmt?

Elternteil: Entweder das – oder es ignoriert, dass etwas anders ist.

Kind: Hoffentlich bemerkt es das!

Elternteil: Wenn es das tut, stellt es sich auf die neue Situation ein und das ist dann: Lernen.

Kind: Und wenn später eine ähnliche Situation kommt, macht es eine andere Vorhersage?

Elternteil: Ganz genau. Schau, auch die Mücken da oben haben ein Gehirn.

Kind: Das hat sicher viel zu tun, die können fliegen!

Elternteil: (bewegt die Schwanzflosse zur einen und zur anderen Seite, gleitet dann im Wasser) Und fühlen.

Kind: (schwimmt am Elternteil vorbei) Sind sie auch manchmal traurig?

Elternteil: Davon können wir ausgehen.

Kind: Oder zufrieden.

Elternteil: Und überrascht.

Kind: Oder sie grausen sich.

Elternteil: Sind ängstlich.

Kind: Das macht auch alles das Gehirn?

Elternteil: Naja, es bekommt Informationen vom Körper und manchmal macht es daraus eine Emotion.

Kind: Cool! Und gelernt hat es ja auch schon etwas über Gefühle –

Elternteil: Das mixt es mit hinein, ganz genau!

Kind: (dreht sich einmal um die Körperachse) Ist das alles auch wieder eine Vorhersage?

Elternteil: (nickt) Es versucht, uns darauf vorzubereiten, was passieren könnte.

Einer der Menschen steigt mit den Füßen in den See, watet im Wasser. Die Fische schwimmen ein Stück weg.

Kind: (leise) Und die Menschen haben auch Gefühle?

Elternteil: (bewegt die Flossen, hält den Körper gegen die Strömungen) Klar, und sie sprechen auch darüber, trotzdem kennen sie sich oft nicht aus damit.

Kind: (richtet den Körper senkrecht im Wasser auf, stabilisiert mit den Flossen) Die tun mir leid, können wir ihnen irgendwie helfen?


Dieser Text ist inspiriert von:

Lisa Feldman Barrett, How Emotions are made, The Secret Life of the Brains, Pan MacMillan 2018

Lisa Feldman Barrett, Seven and a Half Lessons About the Brain, Picador 2020

Mies van Hout, Heute bin ich, Aracari 2012