Im öffentlichen Raum

Wie begegnen wir unserer Stadt? Was können wir dort lernen? Wer bringt sich dort wie ein? Lisa-Viktoria Niederberger hat bei der Künstlerin Cécile Belmont und dem Kulturarbeiter fisch nachgefragt.

Spielerisch die Stadt erkunden

Hier eine Gratiszeitung, da ein Infobildschirm in der Straßenbahn. Dort ein Denkmal, drüben eine Erinnerungstafel an einer Fassade, sie berichtet von historischen Hochwasserständen. Ein QR-Code der mehr über das Gebäude verrät, vor dem man steht. Streetart. Themenwanderwege. Stadtspaziergänge zu Spezialthemen. Informationsflut überall. Wer die Stadt mit offenen Augen und einem neugierigen Blick erkundet, bemerkt, dass der öffentliche Raum ein Bildungsraum sein kann, wenn man es zulässt.

Mit den Möglichkeiten, diesen aktiv zu gestalten, beschäftigt sich Kultur- und Projektarbeiter fisch. Er ist davon überzeugt, dass Lernen und Wissenstransfer auch jenseits von Bildungseinrichtungen stattfinden und kooperiert auch mit dem Tourismusbereich. In Linz werden, was die touristische Wissensvermittlung betrifft, mit der Visit Linz App neue Wege beschritten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die App enthält Elemente, wie wir sie auch aus Handyspielen kennen. „Unterhaltung wird in der touristischen Vermittlung immer wichtiger. Begegnung hat Besichtigung abgelöst“, erklärt fisch. Ähnlich wie beim Massenphänomen Pokémon-Go können Interessierte mit Hilfe von Augmented Reality während des Spaziergangs unbekannte Ecken ihrer Stadt kennenlernen. Als Bestätigung für neu erschlossenes Wissen können virtuelle Linzertorten gesammelt werden. Stadtgeschichte plus Belohnung also. 

Was wird gezeigt?

fisch erzählt, dass es in Linz nicht der Tourismusverband ist, der bestimmt, was touristisch erschlossen wird. Vielmehr seien es die Linzer*innen, die durch ihr Interesse an neuen Orten den Fokus auf jene Orte legen, die dann für Besuchende aufbereitet werden. Vor allem der Mural Harbor, eine Galerie für Graffiti und Wandgemälde im Linzer Hafen, sei ein gutes Beispiel dafür. 

Aber: In Linz ist nicht alles schön, bunt und Kunst. Wie geht der Tourismus mit den dunklen Flecken der Stadtgeschichte um? Eines der Vermittlungsangebote ist das Projekt Steingeschichten, ein Audiospaziergang über die Nibelungenbrücke, der Zwangsarbeit in der Stadt Linz während der NS-Zeit thematisiert. Kein Linzer Stadtbild ohne Steine aus dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen und die Auseinandersetzung, die damit zusammenhängt. „Linz ist mit Zwangsarbeit und durch die Hermann-Göring-Werke zu dem Industriestandort geworden, der es heute ist. Das sollten wir nicht beschönigen oder gar verstecken”, sagt fisch. Stattdessen wird versucht, mit Projekten wie den Steingeschichten auch diesen Aspekt der Stadt kritisch aufzuarbeiten.

Erfahren, Erleben, Auseinandersetzung

Szenenwechsel nach Berlin-Charlottenburg im Herbst 2019. Im Kunstprojekt „Letter am Steinplatz“ lädt die Künstlerin und Kulturvermittlerin Cécile Belmont zwei Monate lang Menschen dazu ein, diesen öffentlichen Raum gemeinsam mit ihr zu entdecken. Ihr künstlerischer Hintergrund liegt in der Textilkunst, partizipative Zugänge und Vermittlung sind ihr wichtig. Es geht ihr nicht nur darum, was Menschen durch ihre Interventionen im Moment über einen Ort lernen, sondern wie dieser sich langfristig verändert. Es geht nicht um die kommerzielle Nutzbarmachung eines Ortes, nicht um akademische Wissensvermittlung, sondern um das Erfahren, Erleben, um eine Auseinandersetzung damit. „Was macht ein Ort mit mir, was macht er mit uns und wir mit ihm? Das interessiert mich“, sagt sie.

Buchstaben, Sprache, ihre Funktionen, auch das sind wichtige Werkzeuge in Belmonts Werk. In ihrer Berliner Intervention hat sie Teilnehmende dazu animiert, sich zuerst mit allen Sinnen auf den Ort einzulassen und ihre Gedanken dazu aufzuschreiben. Aus diesen Texten wurden vor Ort einzelne Worte oder Sätze auf Kleidungsstücke gedruckt, die dann von Personen am Steinplatz getragen wurden. So konnten die alltäglichen Beobachtungen mit der Öffentlichkeit geteilt und für Passant*innen zugänglich gemacht werden. „Ich rieche Feuchtigkeit“, „Ich habe einmal eine Einladung gemacht“, aber auch „Jede Zeit braucht ihre unbequemen Denkmäler“ war auf T-Shirts und Longsleeves zu lesen. Beim Live-Siebdruck der Textilien wurde zusammengearbeitet, sind die Grenzen zwischen Künstlerin und Besuchenden immer mehr verschwommen. „Wir haben das zusammen gemacht, als Kollektiv, als Gruppe. Wir haben uns den öffentlichen Raum, der ja oft auch ein Ort der Angst und des Misstrauens ist, zu einem Ort gemacht, der uns gut tut.“ 

Unbequemes Umdenken

„Letter am Steinplatz“ ist ein Beispiel für genau jene „Begegnung statt Besichtigung“, für die sich auch fisch verstärkt einsetzen möchte. Das gilt besonders dafür, wie mit der NS-Vergangenheit von Linz umgegangen werden soll. So kann der öffentliche Raum allerdings schnell zu einem Konfrontationsort werden. Im Kulturhauptstadtjahr 2009 hat die Berliner Künstlerin Hito Steyerl über die Fassade des östlichen Brückenkopfgebäudes dessen vergessene Geschichte sichtbar gemacht. In ihrer Installation „Unter Uns“ hat sie die neoklassizistische Hülle des Hauses bis zu den nackten Ziegeln abgetragen, und zwar in einem Linienmuster, das die Bewegungen von Zwangsarbeiter*innen und NS-Personal von und nach Linz abgebildet hat. Ein Eingriff ins Architekturensemble des Hauptplatzes, der Wegschauen unmöglich machte. Auch Belmont arbeitet zum Sprechen über die NS-Zeit – etwa im Stadtmuseum Nordico. Dabei geht es vor allem um Handlungsmöglichkeiten und Motive von Menschen, darum, inwiefern sie involviert waren, mitgemacht und profitiert haben, und was diese Zeit mit uns zu tun hat. Der öffentliche Raum als Ort des Wissenserwerbs kann viele Facetten haben. Uns zu Schmerz, Selbsterkenntnis, Verantwortung und virtuellen Linzertorten gleichermaßen führen. Hauptsache, wir schauen hin.


Als Augmented Reality bezeichnet man die virtuelle Erweiterung der realen Sinneswahrnehmung. Dabei werden z.B. Bilder, die mit einem Smartphone aufgenommen werden, mit zusätzlich eingeblendeten Informationen überlagert.