Keine Lust auf Kultur?

Weigert sich das Publikum, zu einer ‚alten Normalität’ zurückzukehren? Welche ‚Normalitäten’ streben Veranstalter*innen und Publikum an? Michael Wimmer über die Lust auf ein Miteinander.

„Der Bedarf der Menschen an Interaktion nach der Pandemie wird gigantisch sein“, meinte der US-Medizinsoziologe Nicholas Christakis. Und doch beklagt der Kulturbetrieb zur Zeit einen beträchtlichen Rückgang an Besucher*innen. Über die Weigerung des Publikums, zu einer „alten Normalität“ zurückzukehren, wurden bereits viele Vermutungen angestellt. Gesicherte Daten zu allfälligen Veränderungen des kulturellen Verhaltens in der Pandemie liegen mangels Begleitforschung jedoch nicht vor. Deshalb verfügen wir auch über keine systematischen Hinweise, die uns helfen, uns auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Wir können lange spekulieren, ob eine allgemeine Müdigkeit, die Furcht vor Ansteckung, die Attraktivität digitaler Medien oder zu viel mittelmäßiges Angebot der letzten Jahre die hauptsächlichen Gründe für das wachsende Desinteresse darstellen. Das bestärkt uns aber lediglich in der zweifelhaften Überzeugung, dass nur die physische Anwesenheit – und sei es als geschlichtete Sardinen im Publikumsraum – den einzig „wahrhaften“ Umgang mit Kultur ermöglicht.

Abkehr von veralteten Rollenbildern

Ich selbst vermute, dass das Fernbleiben des Kulturpublikums in grundsätzlicheren Veränderungen begründet liegt. Immerhin könnte es sein, dass mit dem Ausbruch der Pandemie eine Schieflage an ihr Ende gekommen ist, die bislang den Künstler*innen im Scheinwerferlicht der Bühne den aktiven und den Besucher*innen im dunklen Zuschauerraum den passiven Part zugewiesen hat. 

Dass immer mehr Menschen sich zugleich über- und unterfordert fühlen, an einer fremdbestimmten Einwegkommunikation teilnehmen zu sollen, die ihnen keinerlei Mitwirkung erlaubt. Dass sie sich nicht in die einseitig vorgegebenen Settings, die ihnen jeden Bewegungsspielraum nehmen, zwingen lassen wollen. Dass sie sich nicht mehr erpressen lassen wollen mit Aussagen wie: „Wenn ihr nicht eurer Pflicht als Publikum nachkommt, dann bricht bald der Kulturbetrieb zusammen.” Und dass sie stattdessen selbst entscheiden wollen, was für sie kulturell von Belang ist und was nicht.

Für mich bedeutet das Ausbleiben von traditionellen Besucher*innen – zumindest auch – das Ende einer Phase der kulturellen Repräsentation, die einigen wenigen die Definitionsmacht über Kultur zuspricht und die anderen auf ihre Rolle als (zahlende) Konsument*innen reduziert. Wenn Christakis Recht hat, dann wollen sich Menschen nach einer Phase erzwungener Isolation konkret angesprochen fühlen. Sie wollen ihre Erfahrungen und Fähigkeiten aktiv einbringen und damit in ko-kreativen Settings Kultur gemeinsam gestalten. Als Expert*innen ihrer jeweiligen Lebenswelten stellen sie den Anspruch – auf durchaus spielerische Weise –, ernst genommen zu werden und erwarten, dass man sich für sie in gleicher Weise interessiert wie für die handelnden Künstler*innen.

Zurück zu den Wurzeln

Eine solche Besucher*innen-Erwartung knüpft an die Absichten der Gründer*innen der ersten Kulturinitiativen an. Diesen ging es nicht um die Zelebration einiger weniger Ausnahmeerscheinungen rund um einen isolierten Bühnenraum. Sie strebten vielmehr nach einem neuen Miteinander, das sich an der Utopie, Kunst und Leben zu verbinden, orientierte, um Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen vielfältige, mit künstlerischen Mitteln gestiftete Interaktionsformen zu bieten. Wenn heute die Kulturinitiativen beklagen, dass das Publikum fern bleibt, dann ist das auch Ausdruck eines „Verrates“, der sich im Zuge wachsender Professionalisierung und Ökonomisierung lieber an den Produktionsverhältnissen des Mainstreams orientiert hat, anstatt neue Settings und Formate zu entwickeln, die Menschen einen aktiven Part in der Ausgestaltung unseres kulturellen Lebens zuweisen.

Menschen sind soziale Wesen. Sie wollen zusammentreffen, sich austauschen, gemeinsame Erfahrungen teilen. Dafür braucht es Kulturinitiativen, denen es gelingt, diese Bedürfnisse sowohl anzuregen, als auch zu befriedigen. So könnten sie zu zentralen Orten der Aufrechterhaltung von Öffentlichkeit in einer Phase autoritärer Versuchungen werden, die in einer auseinanderbrechenden Gesellschaft so dringend gebraucht werden. Sie könnten wieder Lust auf eine Kultur machen, die nicht von ein paar Besserwisser*innen verordnet, sondern gemeinsam entwickelt, gelebt und ausgestaltet wird.