Vor mehr als zehn Jahren attestierte der deutsche Autor Martin Büsser der Popkultur ihren Zerfall in eine Vielzahl von Nischen. Mittlerweile lässt sich seine These in vielen Bereichen des Kulturbetriebs nachweisen, etwa im österreichischen Film. Warum das ein Umdenken notwendig macht, analysiert Peter Schernhuber.
Die Nische am Ende des Pop
‹Blühende Nischen› lautet der Titel eines 2010 in der Diskurs-Pop-Buchreihe testcard veröffentlichten Sammelbands. Im einleitenden Beitrag konstatiert Martin Büsser (Herausgeber der Reihe, Kritiker, Autor, 1968–2010) eine Entwicklung, derzufolge die Popkultur, vormals «emotionales Zentrum der Gesellschaft», mittlerweile in eine Vielzahl von Nischen zerfallen sei. Pop – also Stile, Szenen, etc. – besitze trotz seiner Allgegenwärtigkeit keine gesamtgesellschaftliche Deutungshoheit mehr.
Die Ursachen dafür seien im gesellschaftlichen, technologischen und medialen Wandel der Kulturindustrie zu suchen: Konnten Kulturwaren beim Buhlen um Aufmerksamkeit lange Zeit mit der Verheißung des ‹Neuen› locken, befinde sich der Pop seit den 1990ern in einer selbstreferenziellen «Retromania-Dauerschleife ». So bliebe beim Ringen um Relevanz im digitalen Dickicht nur noch der Bruch mit Zeitgeist und Konvention übrig. Das mit diesem Bruch einhergehende gegenkulturelle Selbstverständnis führe direkt ins Nischen-Dasein.
Musik, Film, Literatur, Kunst oder die Aktivitäten der allermeisten regionalen Kulturvereine finden heute in einer Vielzahl von solchen Nischen statt. Das ist nicht als Kritik, sondern als Befund zu verstehen.
Prekäre Verhältnisse
Wenn dieser Tage die Kulturstätten wieder öffnen, ist die Freude nachvollziehbar groß. Die Herausforderungen aus der Zeit vor der Krise werden sich aber vielfach zugespitzt haben. Beispielsweise in den Kinos des Landes: Noch nie wurden weltweit so viele Filme produziert wie heute. Die Kinobetreiber*innen müssen jedoch froh sein, wenn eine Handvoll Besucher*innen zu den Vorstellungen erscheint. ‹Blühende Nischen› bezog sich niemals auf mangelnde Qualität – im Gegenteil. Problematisch ist die Entwicklung der Nischen aber deshalb, weil sie für eine Vielzahl der in der Kultur Tätigen ökonomische Schwierigkeiten bedeutet. Die einzelnen Segmente des Kulturbetriebs sind zudem stärker mit der Frage nach der eigenen Relevanz konfrontiert.
Probleme auch im österreichischen Film
Der von Büsser vor mehr als zehn Jahren festgestellte Zerfall des Kulturbetriebs hat sich mittlerweile auf viele Kulturbereiche ausgedehnt. Er ist heute auch im Filmbetrieb nachzuweisen, wo ein hochdotiertes Fördersystem ein paar Jahre länger einen ‹Normalbetrieb› simulieren konnte, obwohl die Realität längst eine andere war.
Das gilt auch für den österreichischen Film, wo der Begriff ‹Nische› wahlweise als Vorwurf oder Chance formuliert wird. Beide Perspektiven sind verkürzt und beschreiben zwei Seiten desselben Problems: Ein Film, der seine Breitenwirkung beim Publikum verfehlt, weil er strukturell dazu gar nicht mehr in der Lage ist, hat das gleiche Problem wie ein anderer Film, der etwa in Cannes läuft und daraus bei Kinostart keinen Vorteil mehr schlagen kann, weil die Nische, bei der die Etikette Cannes noch Relevanz besitzt, zu klein geworden ist. Wo kein Mainstream (für den österreichischen Film etwa die Kabarett-Filme der 1990er Jahre) mehr möglich ist, gibt es auch kaum mehr Geheimtipps.
Für den globalen Filmmarkt emblematisch ist das Angebot der großen Streamingdienste. Regionale Filme stehen dort ebenbürtig neben Blockbustern. Ebenbürtig deshalb, weil sie ihre primäre Funktion eint: Klickzahlen generieren und das digitale Boxoffice zum Klingeln bringen.
Qualität als Ausweg?
Wer retten will, was es noch zu retten gibt, kommt am Problem der Materialästhetik nicht mehr vorbei», schrieb Büsser 2010. Gemeint ist damit, dass es nachvollziehbare Qualitätsmerkmale von Musik, Filmen und anderen Kulturgütern geben müsse. Im Gegensatz dazu waren in den Jahren zuvor statt dieser Qualitätsmerkmale zunehmend Rezeptionsverhalten, Wahrnehmung und Lesart von Kulturgütern in den Fokus gerückt. Für einen globalen Streaming-Anbieter ist ein Diskurs über die Qualität eines Films irrelevant, solange der Film innerhalb seines Verwertungsplans funktioniert. Dadurch ist in den letzten Jahren ein neues Mittelmaß entstanden, das primär durch perfekte Anpassung an den Zeitgeist besticht.
Fördern, was es schwer hat
Büssers Wunsch nach mehr Auseinandersetzung über Materialästhetik wirkt heute anachronistisch. Und doch gibt es Grund zur Hoffnung. Gerade dort, wo Mittelmäßiges dominiert, ist es das Außergewöhnliche, das noch von sich reden macht. So gelang es etwa jüngst dem österreichischen Spielfilm Joy von Sudabeh Mortezai, selbst im Dickicht von Netflix globale Aufmerksamkeit zu generieren und Sandra Wollner sorgte mit ihrem Sci-Fi-Spielfilm The Trouble with Being Born für internationalen Gesprächsstoff.
Davon ausgehend lässt sich ein Qualitätsanspruch formulieren, der dort ansetzt, wo ein öffentlicher Austausch darüber, was interessiert, begeistert, verstört oder anregt, ermöglicht wird. Gerade weil der Kulturbetrieb nur mehr in einer Vielzahl von Nischen stattfindet, braucht es mehr Vermittlung zwischen den einzelnen Nischen. Darin liegt einer der Vorzüge des gegenwärtigen Kulturbetriebs.
Streaming-Anbieter mit selektiv kuratiertem Angebot, wie die auf Filmkunst und Klassiker spezialisierte Plattform MUBI, wissen das ebenso wie Kulturvereine oder Kinos, die dem Zeitgeist trotzen. Es scheint, als würden sie einer alten kulturpolitischen Parole neues Leben einhauchen wollen: Fördern, was es schwer hat. Dabei eint sie hohe Sachkenntnis und die Fähigkeit, beim eigenen Publikum Begeisterung zu erzeugen. Martin Büsser plädierte für einen ähnlichen Zugang, was ihm mitunter den Vorwurf eines elitären Kulturbegriffs einbrachte. Darauf hatte er, so erinnert sich die Journalistin Sonja Eismann im Vorwort der Textsammlung Music Is My Boyfriend, ein schlagfertiges Aperçu parat: «Nicht elitär, sondern minoritär.»
Lektürehinweise:
Atlanta Athens, Roger Behrens, Martin Büsser, Jonas Engelmann, Johannes Ullmaier (Hg.): testcard #19: Blühende Nischen, Ventil 2010, 312 Seiten.
Martin Büsser: Music Is My Boyfriend, Ventil 2011, 256 Seiten.
Martin Büsser: Für immer in Pop, Ventil 2018, 240 Seiten.