Die Welt verstehen

In gewisser Weise sind wir alle Analphabeten und Analphabetinnen. Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass die Zahl der Menschen, die gut lesen und schreiben können, sinkt. Auch das Verständnis darüber, wie die Welt funktioniert, schwindet. Und das ist, betont der englische Medientheoretiker Marcus Gilroy-Ware, fatal. Er sieht die marktgetriebene Politik und Gesellschaft verantwortlich dafür. Denn warum sollte es im Interesse des Kapitalismus sein, dass wir verstehen, wie er funktioniert? Christa Hager hat mit Gilroy-Ware gesprochen. 

Christa Hager: Warum verwenden Sie die Bezeichnung ‚marktgetriebene Gesellschaft‘ statt Neoliberalismus?

Marcus Gilroy-Ware: Es gibt so viele verschiedene Texte über Neoliberalismus, die Bedeutungen darüber variieren und sind flexibel. Mal beschreibt der Begriff marktähnliche Strukturen von Staaten, mal die Marktlogik von sozialen Kontexten oder der Arbeitswelt. Der politische Ökonom Colin Leys hat 2003 den Begriff „market-driven politics“ eingeführt, um die Umgestaltung und Privatisierung des britischen Staates seit den 1970er Jahren zu beschreiben. Ich dachte, dass man einen ähnlichen Ansatz verwenden kann, wenn man das allgemeine Ausgeliefertsein von Gesellschaft und Kultur an die Marktlogik beschreiben möchte. 

Inwieweit ist Kultur davon betroffen? 

Wie der demokratische Staat wurde auch die Kultur – zumindest in Großbritannien – vom marktgetriebenen Denken übernommen, oft ohne dass die Menschen es bemerken. Ich würde sogar sagen, dass unser gesamtes Bewusstsein von einer Kultur geprägt ist, in der alles implizit von der Logik der Kommerzialisierung, des Austauschs und des Wettbewerbs geleitet wird. Den Menschen fällt es nicht nur immer schwerer, mit diesem Zustand zurechtzukommen, sondern auch, Werte außerhalb dieser Logik, wie Freundschaft, Solidarität, Wahrheit, zu sehen oder einzufordern.

Sie zitieren in dem Zusammenhang den englischen Kulturtheoretiker Mark Fisher mit den Worten, dass „der Neoliberalismus versucht hat, die Kategorie des Wertes im ethischen Sinne zu eliminieren“.

Fishers Zitat ist im Zusammenhang mit der marktgetriebenen Gesellschaft sehr hilfreich, genau deshalb weil es eine Reduzierung oder Verengung der Arten von Werten anspricht, welche die Menschen erkennen können – die ‚Anker‘, auf die sich die Menschen verlassen, um sich in der Welt zu orientieren. Bloß: Können wir nur mit Geld, Wettbewerb, Börse leben? Um mit einer Marktmetapher zu sprechen: Diese Kurzsichtigkeit ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. 

Reicht die Geschichte des Kapitalismus als Kultur nicht weitaus länger zurück? 

Auf jeden Fall! Lange vor Thatcher und Reagan, schon während des Kalten Krieges, wollte der Kapitalismus zeigen, dass er der beste, der freieste, der aufregendste ist – und der Kommunismus schlecht. Und er musste für seinen Erfolg ziemlich hart arbeiten, vor allem über kulturelle Innovationen. Sie wurden Mainstream. Denken Sie nur an die vielen Waren, die in dieser Zeit auf den Markt kamen: Autos, Flugzeuge, Farbfernseher, neue Musikinstrumente und Klänge, neue Arten von Kunst und Architektur. Die westliche kapitalistische Moderne hatte einen überheblichen Ton, E-Gitarren die gleiche Lackierung wie die Autos, und die waren wiederum ein weiterer großer Teil dieser Modernitätswelle. 

Eigentlich waren die faschistischen Regierungen Vorreiter darin, ein politisches System mit Kultur zu verknüpfen: Der Faschismus wollte seine Führer mit moderner Technologie und schicken Uniformen groß und wichtig erscheinen lassen. Und auch der Kapitalismus hat gelernt, sich mit kulturellen Mitteln zu legitimieren und zu erweitern, auch wenn diese Kultur erst später so umfassend marktgesteuert wurde. 

Ist die Möglichkeit des kulturellen Widerstands verloren?

Mark Fisher hat wie viele andere auch mit der Schwierigkeit des kulturellen Widerstands gerungen: dass Menschen so konditioniert sind, dass sie nicht in der Lage sind, außerhalb der marktgetriebenen Gesellschaft zu denken. Er hat den Gangster-Rap und Grunge der 1990er Jahre als eine Art letzte Formen des Widerstands betrachtet – bevor dieser selbst zur Ware wurde. Ich denke, Verbesserungen im Bildungswesen sind ein wichtiger Teil dessen, was wir als nächstes tun müssen. Wir werden hart arbeiten müssen und über die bloße Repräsentation und das Spektakel hinausgehen. Es ist ein sehr langsamer Prozess. 

Sie sprechen in dem Zusammenhang von Alphabetisierung sowie davon, dass wir heute einen eklatanten Mangel davon zu beklagen haben.

Das stimmt leider. Die Alphabetisierung ist mit dem Rückgang des Bildungsniveaus gesunken. Im weiteren Sinn ist Lese- und Schreibfähigkeit auch damit verbunden, die Welt zu verstehen und aktiv und strukturell über sie nachzudenken; die Welt in Bewegung zu sehen. Wahre Lesekompetenz bedeutet nicht nur, einen Text zu lesen, sondern ein tiefes Wissen über diesen Text zu haben. Das Gleiche gilt für die Informationen über unsere Welt. Lese- und Schreibfähigkeit ist ein Teil davon, wie Menschen auf Informationen reagieren. Das ist kein Angriff auf den Einzelnen. Wir müssen kollektiv ein gemeinsames Wissen über unsere Welt entwickeln. Aber das bedeutet, dass wir dieses Wissen und dieses Verständnis der Welt kollektiv wertschätzen und jeder/jedem die Möglichkeit und den Anreiz geben müssen, dies zu kultivieren. Auch das ist ausgehöhlt worden.

Können Sie sich auch andere Mittel vorstellen, mit denen Menschen versuchen, dem Weltgeschehen einen Sinn zu geben, etwa Comics oder mündliche Überlieferungen?

Aber ja, natürlich – Comics, Filme, Cartoons und natürlich Memes und soziale Medien für jüngere Generationen haben definitiv Potenzial für Gegenhegemonie. Und so sehr ich auch ein lautstarker Kritiker der digitalen Plattformen bin und der extrem aggressiven, invasiven Formen des Kapitalismus, die sie repräsentieren, verteidige ich immer auch eine organische, partizipatorische Bottom-up-Kultur. Wie viele Leute Anfang 2020 habe ich im ersten Lockdown einen TikTok-Account erstellt und war angenehm überrascht von den witzigen, kosmopolitischen, politisch radikalen Inhalten von ganz jungen Produzenten und Produzentinnen. Es ist nicht alles toll, aber besser als Facebook, Instagram oder YouTube.

Langversion des Gesprächs in englischer Sprache auf → kupf.at/zeitung/177/myopia


Zum Gendern:

An sich komme ich mit der gängigen Möglichkeit, männliche und weibliche Form zu nennen gut zurecht und finde sie ausreichend. Nach Alternativen gefragt fielen mir lateinische Pluralformen ein, in Anlehnung daran könnten Singularformen mit einen simplen -i, Pluralformen mit einem -ii versehen werden. Doch möglicherweise wirkt das zu infantil.


Marcus Gilroy-Ware ist Medientheoretiker. In seinem aktuellen Buch After The Fact? geht er den Ursachen der gegenwärtigen Krise der Demokratie nach und sieht die marktgetriebene Politik und Gesellschaft verantwortlich dafür, dass genau dieses elementare Wissen vorenthalten wird.
→ mjgw.net/


Marcus Gilroy-Ware, After The Fact? The Truth About Fake News, 360 Seiten, Repeater Books 2020.


Christa Hager ist Historikerin und Redakteurin bei der „Wiener Zeitung“, lebt und arbeitet in Steyr und Wien.