Radikal verstrickte Beziehungen

Metaphern des Wachsens verraten viel über gesellschaftliche Vorstellungen von Autonomie, Beziehungslosigkeit und der Entwicklung von Einzelnen. Jackie Grassmann und Simon Nagy argumentieren für den Begriff des Ver-Wachsens, mithilfe dessen sie eine Politik der multidimensional wuchernden Beziehungen skizzieren.

Junge Menschen wachsen auf und anderen über den Kopf, eifrige Menschen wachsen an ihren Aufgaben. Besonders erfolgreiche Menschen wachsen sogar über sich selbst hinaus. Diese Alltagsmetaphern suggerieren, Einzelne könnten sich aus eigener Kraft entwickeln, dabei andere überholen und sich als einzigartig begabt und stark erweisen.
Dieses Denken vom Menschen als autonomes, isoliert wachsendes Individuum ist ein Produkt der Aufklärung und wurde in den letzten Jahrzehnten neoliberaler Ökonomie zum Exzess getrieben. Der Imperativ des Neoliberalismus lautet: Gestalte dich selbst, nimm dein eigenes Leben in die Hand, zeig der Welt, was du drauf hast. Das Ich ist eine abgegrenzte Entität mit Gartenzaun.

Immer schon durchlässig, immer schon verstrickt
Angesichts der Erfahrungen im Zuge der COVID-19- Pandemie erweisen sich diese Vorstellungen von Autonomie und Abgegrenztheit einmal mehr als Trugbilder. Weder sind die Grenzen unserer Körper so undurchlässig, wie wir uns das vielleicht wünschen, noch können wir uns hermetisch voneinander abriegeln. Wir sind durchdringbare Subjekte. Ökonomische und politische Mächte antworten auf diese Erkenntnis mit umso brutaleren Versuchen der Abgrenzung: durch die Verriegelung der europäischen Außengrenzen, durch die Unterscheidung zwischen schützenswertem und wegwerfbarem Leben.
Dabei ließe sich die gegenseitige Durchdringbarkeit, die dieser Virus so deutlich ins Bewusstsein ruft, auch als Chance verstehen. Diese lautet, Relationalität – also das In-Beziehung-Stehen – als Grundbedingung unseres gesellschaftlichen Daseins anzuerkennen.
Karen Barad betont etwa den Begriff ‹entanglement›, der vielleicht am ehesten mit «Verstrickung» zu übersetzen ist. Indem sie Erkenntnisse aus der Quantenfeldtheorie auf unsere gegenwärtigen sozialen Zusammenhänge überträgt, hält sie fest, dass wir niemals zuerst als Einzelne existieren und dann mit anderen in Kontakt treten. Vielmehr sind wir schon von vornherein und unumkehrbar mit (allen) anderen und der (ganzen) Welt verstrickt. Die spätkapitalistische Maxime der Autonomie, derzufolge größtmögliche Freiheit nur durch größtmögliche Unabhängigkeit erreichbar ist, erweist sich dann als größtmögliche Ignoranz.
Es stellt sich also gar nicht die Frage, ob wir uns mit anderen in Beziehung(en) setzen, sondern wie wir das tun. Fragen nach Ein- und Abgrenzungen werden damit von Fragen nach Distanzverhältnissen abgelöst. Bewegen wir uns von der einen Sache weg, bewegen wir uns notwendigerweise auf eine andere zu. Wir stehen zu jedem Zeitpunkt mit unzählbar vielen anderen in Relation. Bewegt sich eine*r, verändert sich die Position von allen. Nicht berührt zu werden ist unmöglich – dafür sind wir bereits viel zu verstrickt.

Die Lust am verwachsenen Bezogen-Sein
Wir schlagen daher vor, Metaphern des individuellen Wachsens zu verwerfen und durch Bilder des Ver-Wachsens zu ersetzen. Diese unterscheiden sich grundlegend von romantischen Fantasien eines Zusammenwachsens, eines Auflösens des Ich in der Gemeinschaft. Gemeint ist ebensowenig ein instrumentelles Wachsen an anderen, in dem das neoliberalzielgerichtet wachsende Subjekt andere bloß als Trittbrett der eigenen Entfaltung erkennt.
Die Freiheit, die wir meinen, ist nicht im Lossagen von Verantwortung zu finden. Im Gegenteil: Wir schließen uns feministischen Positionen an, die davon ausgehen, dass nichts so tiefgehende Befriedigung und Freude bereitet wie das verantwortungsvolle Bezogen-Sein zu anderen. Anstatt also zu versuchen, beziehungs- und damit widerspruchsfreie Räume zu schaffen, soll es um bewusste, ebenso politische wie lustvolle Positionierungen gehen.
Ein gemeinschaftliches Verwachsen-Sein setzt die Anerkennung all derjenigen Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse voraus, denen Menschen ausgesetzt sind. Sich damit auseinanderzusetzen ist kein Akt der Barmherzigkeit, sondern schlicht Notwendigkeit: Die Verhältnisse, in denen wir leben, betreffen uns alle. Fred Moten, Dichter und Black Studies-Theoretiker, adressiert alle in sogenannten privilegierten gesellschaftlichen Positionen:

«The coalition emerges out of your recognition that it’s fucked up for you, in the same way that we’ve already recognized that it’s fucked up for us. I don’t need your help. I just need you to recognize that this shit is killing you, too, however much more softly, you stupid motherfucker, you know?»

Statt schlicht Unterstützung oder Hilfe zu meinen, nimmt Solidarität die Form einer Koalition an, die auf der Einsicht einer geteilten Durchdringbarkeit, also Verletzlichkeit aller Menschen basiert und nicht notwendigerweise auf einer Identifikation miteinander.

Wuchernde Beziehungen, andere Gemeinschaften
Diese Koalition ist eine lebendige: Während die Verstricktheit in erster Linie einen Ist-Zustand beschreibt, wohnt dem Verwachsen bereits eine Bewegung inne. Es lässt sich weiterhin wachsen, aber eben nicht alleine und nicht isoliert. Wachsen wird zur kollektiven Tätigkeit, die nicht mehr in einer klar vorwärtsgerichteten Bewegung besteht, sondern in jede erdenkliche Richtung führen kann. Wir wuchern. In ihrem Buch Beziehungsweise Revolution schreibt Bini Adamczak, dass die Grundlage für radikale gesellschaftliche Veränderung in der Erprobung gänzlich neuer Beziehungsformen liegen muss. Es geht darum, andere Verständnisse dafür zu kultivieren, was ‹ich› ist und was ‹das Andere›, damit wir endlich verstehen können, was ‹wir› heißen kann: Es geht darum, alternative Verbindungen zu imaginieren, jenseits der etablierten Konzepte von Familie, Freund*innenschaft, Partner*innenschaft oder Sportverein – eingebettet in eine ebenso verwachsene Welt. Die Abhängigkeiten, die uns dabei deutlich werden, gilt es weder zu bekämpfen noch zu verleugnen. Radikal verstrickte Beziehungen sind der Grund, warum wir überhaupt imstande sind zu wachsen.