In ihrem Buch Von der Utopie zur Dystopie zeigt die Philosophin Ágnes Heller, dass Dystopien — also negative Utopien — uns heute mehr nützen als alle Vorstellungen einer idealen Zukunft. Ihr Übersetzer und Verleger, Georg Hauptfeld, fasst zusammen.
Ágnes Heller, neben Hannah Arendt die wahrscheinlich bedeutendste Philosophin des 20. Jahrhunderts, erlebte in ihrem Leben fünf verschiedene politische Systeme: das autoritäre Horthy-Regime in Ungarn nach dem ersten Weltkrieg, die Nazizeit, in der hunderttausende ungarische Jüdinnen und Juden ermordet wurden und sie selbst nur knapp dem Tode entkam, den Kommunismus der Nachkriegszeit mit seiner brutalen Gleichschaltung und Verfolgung von Andersdenkenden, die liberale Demokratie nach der Wende 1989 und schließlich die illiberale Regierung von Viktor Orbán.
Abkehr von allen ‹Ismen›
Unter dem Einfluss ihres Lehrers Georg Lukács zur Marxistin geworden, wandte sie sich im Laufe ihres Lebens in vielen kleinen Schritten vom Marxismus und schließlich überhaupt von allen ‹Ismen› ab. In bester Tradition österreichischer Denker*innen wie Karl Kraus und Robert Musil, Elias Canetti, Ludwig Wittgenstein und Ingeborg Bachmann sieht sie die Einzelnen gefordert, nicht irgendein System.
Die Autonomie, Vielfalt und Pluralität der Menschen, ihrer Ansichten und Gefühle stehen im Zentrum ihrer ‹Anti-Ideologie›. Bei öffentlichen Auftritten hatte man stets das Gefühl, sie interessiere sich nur mäßig für die eigenen Ansichten oder gar für eine absolute Wahrheit. Vielmehr lebte sie im Gespräch auf, keine Frage fand sie uninteressant, über alles war sie bereit nachzudenken, sofern sie es als Gegenstand ihres philosophischen Metiers verstand. In ihrem Buch Eine kurze Geschichte meiner Philosophie formulierte sie diese Einstellung sehr poetisch: «Man kann nur die Essenz zusammenfassen. Das ist der See, in den alle Flüsse strömen und dem alle Flüsse entspringen. Flüsse können nicht zusammengefasst werden, und in diesem Sinne haben sie auch keine ‹Essenz›. Aber sie sind erfrischender, unberechenbarer und vielleicht auch liebenswerter als das Reservoir, aus dem sie kommen und in das sie zurückfließen.»
Lernen von dystopischer Literatur
Auf der Grundlage dieser Einstellung geht sie mit der Idee der Utopie hart ins Gericht. In ihrem Buch Von der Utopie zur Dystopie zeigt sie, dass der Mensch nicht dazu in der Lage sei, sich die Zukunft vorzustellen, und dass alle großen Utopien, von Platon bis Marx, deshalb wenig nützen. Noch alle Revolutionen hätten ihre Anhänger*innen enttäuscht, das scheine in ihnen selbst angelegt zu sein. Keine der bisher entworfenen Utopien würde uns überhaupt wünschenswerte Zustände bringen. Im Gegenteil, die meisten brächten ein streng geregeltes, unfreies Leben: «Schon seit Platon waren alle utopischen Gesellschaften streng kollektivistisch.»
Statt sich also mit Vorstellungen zu beschäftigen, wie etwas sein sollte oder könnte, sollten wir lieber dafür sorgen, so Heller weiter, dass Freiheit und Kreativität erhalten bleiben: Wir müssen sie schützen vor den zahlreichen Gefahren, die auf sie lauern; Gefahren, die durchaus vom Menschen, also von uns selbst, ausgehen. Diese Gefahren zu erkennen und zu beschreiben, sei Aufgabe der Dystopie. Wenn wir uns aufmerksam mit bedeutenden Dystopien auseinandersetzen – zum Beispiel mit Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932), George Orwells 1984 (1949), oder Margaret Atwoods Der Report der Magd (1985) –, könnten wir vielleicht rechtzeitig gegensteuern. Einerseits würden unsere Illusionen über die eigene Unabhängigkeit und die Unumkehrbarkeit des Fortschritts offengelegt, andererseits ergäben sich für uns Handlungsmöglichkeiten:
«Wenn dystopische Romane uns sagen: Du wirst dich unterwerfen, können wir antworten: Das werden wir nicht tun. Das ist eine Wette. Man wettet auf die Zukunft. Die meisten dystopischen Romane gehen davon aus: Solange es einen einzigen guten Menschen auf der Welt gibt, wird es immer jemanden geben, der sich nicht unterwirft. Uns bleibt eine Wahl: nicht zu verzweifeln, nicht aufzugeben, doch nicht leeren Illusionen nachzulaufen. Ohne Optimismus und ohne Pessimismus, wie Voltaire vorgeschlagen hat, soll man seinen Garten kultivieren.»
Lesetipp:
Ágnes Heller, Von der Utopie zur Dystopie, Edition Konturen 2016.
Ágnes Heller, Eine kurze Geschichte meiner Philosophie, Edition Konturen 2017.
Georg Hauptfeld, Der Wert des Zufalls. Ágnes Heller über ihr Leben und ihre Zeit, Edition Konturen 2018.