Ende der Kulturpolitik?!

Yvonne Gimpel blickt in Abgründe.

Das Nichts ist immer am Schwersten darzustellen. Im Verhandlungsreigen über die zukünftige österreichische Bundesregierung sucht man Kulturpolitik (bislang) vergebens. Verwunderlich ist das nicht. Weder im Wahlkampf noch im politischen Alltagsgeschäft war und ist Kulturpolitik ein Thema, das zu emotionalisieren oder zu mobilisieren vermag – zumindest nicht über die Erregungskurve punktueller Skandalisierungen und tatsächlicher Skandale hinaus, die über den Resonanzraum der Kulturszene hinweg wirken und nicht sofort unter der Wahrnehmungsschwelle verpuffen. Mit Kulturpolitik sind schlichtweg keine Wahlen zu gewinnen (und wurden sie hierzulande auch nie gewonnen). Gesellschaftspolitischer Gestaltungsanspruch durch Kultur/-politik? – In den politischen Prioritäten wie den aktuellen Regierungsverhandlungen bestenfalls eine Fußnote, die sich in „Ja, eh“-Beteuerungen als Beruhigungspillen für die Kulturszene/n und Selbstversicherungen der ‘Kulturnation’ erschöpft.

Katastrophale Ausgangsbedingungen

Machen wir uns nichts vor: Der Stillstand in der Kulturpolitik ist seit langem ein Faktum. In Zeiten des verinnerlichten Dogmas von „alle müssen sparen“ wurde Kulturpolitik zur Mängelverwaltung degradiert, auf prestigeträchtige Herzeige-Projekte und Eventmarketing reduziert und ihre ökonomisch potentiell nützlichen Anteile heraus filetiert (Stichworte: Kultur als Wettbewerbs- und Standortvorteil, für Innovation und Wirtschaftswachstum, etc.). Ein Befund, der nicht nur auf Österreich zutrifft, sondern sich quer durch Europa zieht, wenn auf EU-Ebene etwa Kultur ganz hinter dem Schlagwort ‘Innovationsförderung’ verschwinden soll. Es scheint, einzig rechtsextreme Parteien haben es verstanden, das gesellschaftspolitische Gestaltungspotential von Kultur zu nutzen. Sie führen den Diskurs vor allem über Identitätspolitik.

Ob die angelaufenen türkis-grünen Regierungsverhandlungen, so sie denn zu einer Regierung führen, eine spürbare Trendwende bringen oder weitere Strophen zu diesem Abgesang auf eine aktive, mutige, demokratische/demokratisierende und faire Kulturpolitik hinzufügen, bleibt abzuwarten. Skepsis ist angebracht. Denn dagegen sprechen nicht nur das kulturpolitische Verständnis und bisherige Agieren der ÖVP, das auf Brauchtumspflege, Repräsentationskultur und Kreativwirtschaft setzt, sondern auch die Ausgangsbedingungen.

Einige Beispiele dafür, die hier nur kursorisch angerissen werden: Der Blick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Kunst- und Kulturbereich offenbart ein katastrophales Bild. Die wenigsten können durch ihre künstlerische/kulturelle Tätigkeit ein Auskommen finden. Trotz Mehrfachbeschäftigungen und zusätzlichen ‘Brotjobs’ lebt über ein Drittel an bzw. unter der Armutsgefährdungsschwelle und steuert schnurstracks auf die Altersarmut zu. Selbst in öffentlich geförderten Projekten und Einrichtungen ist ‘Fair Pay für Kulturarbeit’ weitgehend kein Thema (auch wenn hier punktuell Bewegung in die Sache kommt, etwa, wenn einzelne Förder-Calls zumindest auf Fair Pay verweisen). Die sozialen Sicherungssysteme stellen noch immer auf traditionelle, durchgehende Erwerbsbiografien ab. Entsprechend lückenhaft bis nicht existent ist die soziale Absicherung für alle, die in derart hyperflexiblen, prekären Verhältnissen leben und arbeiten. (Das betrifft nicht nur Kulturarbeiter*innen!) Neben der individuellen Ebene wird auch der Erhalt und Aufbau von Strukturen freier Kulturarbeit kontinuierlich schwerer – Fixkosten für Infrastruktur und Personal steigen, Sanierungen und Investitionen werden erforderlich, (neue) bürokratische Auflagen müssen erfüllt werden, etc.

Demgegenüber werden die budgetären Spielräume öffentlicher Kulturförderung immer enger – insbesondere für zeitgenössische Kultur, die gemeinnützig arbeitet. Selbst wenn die jüngsten, teils gezielten Budgetkürzungen für freie Kulturarbeit nicht berücksichtigt werden – etwa in Oberösterreich, in der Stadt Salzburg oder im Bund – geht der Trend klar nach unten mit einem Wertverlust der öffentlichen Kulturausgaben Österreichs von über 100 Millionen Euro seit 2008.

Dem Untergang geweiht

Die gewachsenen Strukturen der Kulturpolitik und -verwaltung sind starr verfestigt. Veränderung bräuchte Kooperation (z.B. zwischen Fachabteilungen, Ressorts, Verwaltungsebenen) und Partizipation an Entscheidungsprozessen – diese hat jedoch im Kulturbereich keine Tradition in Österreich und bricht selbst dort, wo sie bislang existierte (z.B. Sozialpartnerschaft) zunehmend weg. Und so dreht die Politik bestenfalls an einzelnen Stellschrauben und betreibt Symptombehandlung, bei der der Erhalt des kulturpolitischen Status Quo bereits als Erfolg verbucht wird; sich der Zustand jedoch ohne fundamentalen Systemwandel fortwährend schleichend weiter verschlechtert.

Wir steuern kulturpolitisch seit Jahrzehnten konsequent auf einen Abgrund zu. Dass sich der kulturpolitische Systemkollaps bis jetzt nicht realisiert hat und es eine vielfältige, lebendige Kulturszene gibt, verdankt sich zu einem Großteil der ungebrochenen Bereitschaft der Kunst- und Kulturarbeiter*innen, selbst unter den miesesten Bedingungen motiviert weiter zu arbeiten und letztlich Raubbau an sich selbst zu betreiben (und dem ungebrochenen Nachschub junger Kunst- und Kulturarbeiter*innen, die dem Lockruf der ‘Freiheit der Kunst’ folgen). Wenn der tagtägliche Existenzkampf fast alle Ressourcen bindet, bleibt weniger Kraft, an gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozessen mitzuwirken. Viele Kulturarbeiter*innen tun dies dennoch, den Rahmenbedingungen trotzend. Damit sich diese (kulturpolitischen) Rahmenbedingungen endlich ändern – vom Existenzkampf zum Guten Leben für alle –, brauchen wir stärkeren politischen Handlungsdruck.

Ist ein Kulturstreik die Antwort?

Eine der sicherlich öffentlichkeitswirksamsten Momente des ‘Streiks und Aufbegehrens’ des Kultursektors liegt mehr als zwei Jahrzehnte zurück. 1998 protestierte der Umzug der Maroden gegen den Stillstand in der Kulturpolitik und für bessere soziale Absicherung auf der Ringstraße in Wien – mit bescheidenem Erfolg auf politischer Ebene. Dass heute ein ‘Streik’ bzw. ‘Protestaktionen’ von Kunst- und Kulturschaffenden ausreichen, um den erforderlichen Handlungsdruck für die Politik zu erzeugen, ist zu bezweifeln. Kulturpolitik ist immer noch ein Nischenthema. Ein Streik könnte aber durchwegs ein erster Weckruf sein, um die Kulturpolitik aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und dorthin zu holen, wo sie hingehört: In die Mitte der Gesellschaft, als Pulsschlag der kritischen Auseinandersetzung mit den vordringlichsten Fragen unserer Gegenwart und Zukunft, als offener Begegnungsraum, in dem alle Menschen sich einbringen können – ganz gleich wo und wie sie leben.

Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders

Um mehr als ein Weckruf zu sein, muss der Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit von Kunst- und Kulturarbeit neu belebt und gelebt werden. Gelingen kann dies durch Repolitisierung und Solidarisierung. Denn jene Existenzkämpfe, die den Kultursektor aktuell prägen, sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, weit mehr als ein Nischenthema und fixer Bestandteil der Grundfragen unserer Zeit. Letztlich geht es nicht um ein bisschen mehr oder weniger für Kultur. Es geht um eine Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders. Anstatt Kulturanliegen isoliert zu betrachten: Warum nicht gemeinsam streiken mit all jenen, die ebenso prekär leben und arbeiten, die kein Auskommen finden, die marginalisiert werden? Und als ersten Schritt, dort wo Protestbewegungen bereits existieren, warum sich nicht solidarisieren und als sicht- und wahrnehmbarer Kulturblock auftreten?