Kunst und Politik im Brexit

(Un-)making the nation – Marie Rosenkranz über das schwierige Verhältnis von Kunst und Nation  – am Beispiel Brexit.

„Vote Leave, take back control“ – der Kampagnenslogan der Brexit-BefürworterInnen bekräftigt nicht nur den britischen Souveränitätsanspruch gegenüber der Europäischen Union (EU), er ist auch eine offene Kampfansage im Rahmen eines Kulturkampfes. Grundlegende Konzepte von Heimat, Identität und Zugehörigkeit werden neu verhandelt: Das ist keine reine politische Debatte, sondern auch ein Frage von Kultur. Ein altes Konzept erlebt dabei ein gefährliches Comeback: Die Nation wird als Identifikationsangebot herangezogen. Globalisierungs- und Migrationsängste werden aufgegriffen, um demokratische Mehrheiten zu sichern – zulasten eines weltoffenen Kosmopolitismus, der aber ebenfalls weit verbreitet ist. Die neuen Nationalismen in Europa und den USA lassen sich dabei aber weniger als Rückkehr der Nation als tragfähiges Zukunftskonzept deuten, sondern scheinen Ausdruck einer tiefgreifenden Krise des Nationalstaats zu sein, der immer weniger in der Lage scheint, demokratisch Lösungen für globale politische Herausforderungen – ganz zu schweigen von den besten Entscheidungen für ein globales Gemeinwohl – zu produzieren.

Nation und Kulturproduktion

Nationen sind nach Benedict Anderson stets auch imagined communities, also erdachte Konstrukte, die erst durch Imagination und kulturelle Repräsentation entstehen und sich wesentlich durch Kulturarbeit festschreiben oder auflösen lassen. Medien, Kunst und Popkultur tragen maßgeblich dazu bei, womit sich Menschen identifizieren. Auch der Brexit wird deshalb bei weitem nicht nur in den politischen Institutionen der EU und Großbritanniens verhandelt, sondern auch auf der Straße, in den Medien, sowie in Popkultur und Kunst in Europa und darüber hinaus. Der deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans etwa warb im Vorfeld des Referendums mit seiner „Anti-Brexit Campaign“ für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Er stellte dazu Bilder mit einem hohen Wiedererkennungswert auf seiner Website zur Verfügung, die als Träger von Sätzen wie „No man an island. No country by itself.“ oder „What is lost is lost forever” dienten. Nach dem Schneeballprinzip wurden diese visuellen Bekenntnisse auf Social Media verbreitet und durch Privatpersonen ausgedruckt plakatiert. Dagegen bildete sich in England z. B. die etwas weniger beachtete Gruppe „Artists for Brexit“, die den Brexit als demokratisches Bestreben feierte und sich als Vertreterin der Arbeiterklasse inszenierte. Während die Brexit-BefürworterInnen im Nachgang des Referendums ein Museum of Sovereignty zu planen begannen, in dem Artefakte aus der Leave-Kampagne ausgestellt werden sollen, organisiert sich Tillmans nach dem Referendum noch stärker in einem europäischen aktivistischen Netzwerk. So rief er etwa im Kontext des Ideenwettbewerbs Eurolab unter dem Motto „Act for Democracy!“ gemeinsam mit dem Architekten Rem Koolhaas dazu auf, gezielt an einem neuen europäischen Narrativ und neuen Kommunikationsstrategien für Europa und die EU zu arbeiten.

Differenzierte Beiträge zur Mainstream Debatte

Auch der britische Künstler Grayson Perry gehört zu denjenigen KünstlerInnen, die sich vor dem Hintergrund des Brexit mit dem Thema Heimat und Zugehörigkeit auseinandersetzen. In seinem Skulpturen- und Filmprojekt „Divided Britain“ erforscht Perry die Beweggründe der Leavers und kommt dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass in den Brexitkampagnen „Citizens of Nowhere“ und „Citizens of Somewhere“ gegeneinander ausgespielt wurden. Damit bringt er mit einem künstlerischen Zugang zum Thema die gesellschaftliche Spaltung zwischen einer kosmopolitischen und einer heimatnahen Klasse auf den Punkt, ohne dabei auf die in Massenmediendiskursen gängige aber hierarchische Wendung der „Globalisierungsverlierer“ oder „Abgehängten“ zu rekurrieren.

Brexit everywhere

Sogar in der Architektur wurde der Brexit aufgegriffen. Bei der Biennale in Venedig 2018 wurde er im britischen Pavillon kommentiert, indem eine gigantische Insel um den ansonsten weitgehend leeren Pavillon herum gebaut wurde. Die BesucherInnen konnten auf die Dachterrasse gehen und auf die Menschen außerhalb dieser „Insel“ herabschauen und wurden so isoliert, erhoben aber auch privilegiert. Musikalisch wurde der Brexit im Abgesang auf den Westen „Europe is Lost“ aufgegriffen, den die Rapperin Kate Tempest allerdings bereits vor dem Referendum produzierte. Im Nachgang des Referendums wurde der Song zu einer Art verbindendem Soundtrack, an dem sich insbesondere junge Menschen, die weitgehend nicht oder wenn, dann gegen den Brexit gestimmt hatten, festzuhalten schienen. Als hätte Tempest es antizipiert, thematisiert sie ganz im Sinne von Kultur als vorpolitischem Terrain den Nährboden des Brexit: soziale Spaltung, Desorientierung der Jugend, Klimawandel und ganz banal: die vom Verkehr verstopften Straßen der Großstadt. Sie zeichnet ein Bild derjenigen Gesellschaft, die den Brexit wollte und ruft zugleich dazu auf, nicht tatenlos zu zu sehen.

Kunst und Politik im Wandel

Der Brexit ist so Gegenstand und Anlass zahlreicher künstlerischer Arbeiten und Eingriffe. Dabei haben einige Arbeiten den Anspruch, das politische Geschehen zu erforschen und zu reflektieren: Sie machen die kulturellen Grundlagen der politischen Entscheidung, die EU zu verlassen, sichtbar. Für den Brexit, so legen es diese künstlerischen Reflektionen nahe, besteht der vorpolitische Nährboden im Grunde in unterschiedlichen Zugehörigkeitsgefühlen und einem Dissens über die Rolle der Nation in Europa.

Andere KünstlerInnen greifen direkt in das politische Geschehen ein und versuchen durch ihre Arbeit, ein geeintes Europa zu retten. Nicht nur aus ökonomischen Gründen stellt der Brexit deshalb einen Einschnitt in die Formen künstlerischer Praxis dar: Er tritt als ein weiterer Faktor im sich bereits seit Occupy Wall Street wandelnden Verhältnis von Kunst und Politik auf. Beispiellos ist dabei die Spaltung des Kunstfelds selbst, welches die Spaltung der britischen Gesellschaft abbildet und reproduziert. Der Fall Brexit veranschaulicht, dass die Künste im Zusammenhang mit neuen Nationalismen einerseits verstärkt politisch instrumentalisiert, vor allem aber auch aus der künstlerischen Initiative heraus politisiert werden. Sie werden zunehmend als Werkzeug des Widerstands begriffen: Widerstand gegen die Nation, Aufstand für Europa.