100 Jahre Frauenwahlrecht* sollten auch ein Anlass dafür sein, über die immer noch eingeschränkten Möglichkeiten der politischen Partizipation von Frauen zu sprechen – auch mit Blick auf die EU-Wahl.
In Österreich dürfen Frauen per Gesetz mittlerweile alles, was Männer immer schon ohne entsprechende Bestimmungen durften. Wählen, eigene Entscheidungen unabhängig von einem männlichen Vormund treffen, lohnarbeiten. Dass das noch nicht lange der Fall ist, ist einigermaßen bekannt. Trotzdem wird immer wieder so getan, als markiere diese theoretisch festgeschriebene Gleichberechtigung das Ende des langen Kampfes, als gäbe es seither keinerlei Chancenungleichheiten mehr zwischen Frauen und Männern.
Ja, Frauen dürfen alles. Gleichzeitig sollen sie aber immer noch mehr und können dadurch immer noch weniger. Wie bitte? Frauen haben auch heute noch viel zu wenige Ressourcen für das, was sie sich einst in feministischen Kämpfen erstritten haben, Stichwort politische Partizipation. Das liegt einerseits an der nach wie vor stark stereotypischen Rollenverteilung in Hetero-Beziehungen, die sich insbesondere mit dem ersten Kind häufig verselbstständigt. Es liegt aber auch an den strukturellen Anforderungen, die die Gesellschaft an Frauen als Gruppe stellt. Sie werden praktisch auf sämtlichen Ebenen davon abgehalten, am politischen Geschehen teilzunehmen, obwohl sie theoretisch alle Rechte dazu haben. Politische Partizipation soll an dieser Stelle nach dem Politikwissenschafter Max Kaase definiert werden. Sie schließt alle Handlungen ein, die gesetzt werden, um Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen oder zu treffen.
Desinteresse verlernen
Die Versuchung, die Problematik sofort auf eine individuelle zu reduzieren, ist groß, wird doch die “Wahlfreiheit” der modernen Frau immer noch gerne als Totschlagargument gegen diskriminierende Strukturen herangezogen. Aber welche Strukturen sind es, die Frauen an der politischen Teilhabe hindern? Wie so oft spielt bereits die geschlechtsspezifische Sozialisation eine Rolle. Mädchen bekommen früh gesagt, dass das “Politische” Männer- und das “Private” Frauensache ist. Das klingt konservativ, aber so läuft es tatsächlich noch in weiten Teilen des Landes. Hinzu kommt, dass sowohl im Geschichtsunterricht als auch in aktuellen Nachrichten kaum Frauen in politischen Funktionen vorkommen. Auch in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Bildung und Wissenschaft sind die, die etwas zu sagen haben, fast ausschließlich Männer. Die daraus resultierenden Vorstellungen von Geschlechterrollen behindern Frauen in der Entwicklung und Ausübung politischen Engagements, schreibt auch die Politikwissenschafterin Bettina Westle in einem Artikel über politische Partizipation und Geschlecht. Frauen müssen ihr erlerntes Desinteresse an der Männerdomäne Politik erst wieder verlernen, um sich dafür zu interessieren.
Repräsentation ist natürlich auch für erwachsene Frauen relevant, weil ihnen auf den ersten Blick eine (parlamentarische) Interessenvertretung fehlt. Wichtiger ist aber die Möglichkeit der Organisation und hier wird es knifflig. Es kommt für politisch engagierte Frauen bald der Punkt, an dem es schwierig wird, mitzuhalten bzw. nur jene aus privilegierten Familien am Ball bleiben können. Schließlich muss man sich (unbezahltes) Engagement leisten können.
Engagement im Schlaf?
Dass der Ausschluss von Frauen, die von Lohnarbeit abhängig sind, zu weniger Klassenbewusstsein in der potenziellen politischen Nachfolge führt, ist Teil des Problems. Die Möglichkeit, als Frau “in die Politik zu gehen”, ergibt sich nämlich in den meisten Fällen aus einem bereits vorhandenen politischen Engagement. Und: Frauen stemmen nach wie vor den Großteil der unbezahlten Sorge- und Haushaltsarbeit. Bei einem Vollzeitjob bleibt so gut wie keine Zeit mehr für politisches Engagement, bei einem Teilzeitjob detto, weil dieser meistens mit Kinderbetreuungspflichten einhergeht. Wann sollen sie sich also politisch engagieren? Im Schlaf?
Um Frauen eine gleichberechtigte politische Partizipation zu ermöglichen, muss also der strukturelle Ausschluss auf allen Ebenen bekämpft werden. Dass das Thema in Österreich nur oberflächlich in Form von Quoten in hohen Positionen angeschnitten wird, ist schade. Die einzige Spitzenkandidatin im EU-Wahlkampf wird das nicht ändern. Sie ist eine Liberale.
*Sexarbeiterinnen waren noch bis 1920 vom Wahlrecht ausgeschlossen
Zitierte Werke:
Kaase, Max: Partizipation. In: Holtmann, Everhard: Politik-Lexikon, München: Oldenbourg.
Westle, Bettina: Politische Partizipation und Geschlecht. In: Koch A., Wasmer M., Schmidt P.: Politische Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland. Blickpunkt Gesellschaft, vol 6. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.