Heidemarie Uhl geht der Frage nach, wie in Europa Identität konstruiert wird.
Was haben der Archäologische Park Carnuntum in Österreich, die Gedenkstätte Kamp Westerbork in den Niederlanden, der Friedenspalast in Den Haag und die Zukunftshalle in Tallinn gemeinsam? Diesen Einrichtungen wurde 2014 das europäische Kulturerbe-Siegel verliehen, eine neugeschaffene Auszeichnung von EU-Parlament und Council of Europe für cultural heritage-sites, in denen ein spezifisch europäisches Kulturerbe sichtbar gemacht wird. In der Begründung für die Einführung dieser Auszeichnung wird als Ziel formuliert: „Wenn die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere junge Menschen ihr gemeinsames und zugleich vielfältiges Kulturerbe besser kennen und schätzen lernen, trägt dies zur Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zur Union bei und regt den interkulturellen Dialog an.“ (Amtsblatt der Europäischen Union, 22.11.2011, L 303/1)
Eine Seele für Europa
Das europäische Kulturerbe-Siegel ist ein weiteres Projekt im Feld der europäischen Kulturpolitik, die einer klaren Agenda folgt: Die Berufung auf eine gemeinsame Kultur und Geschichte soll zum Ankerpunkt einer transnationalen europäischen Identität werden. Mit dem Zauberwort Kultur soll das emotionale Defizit der Europäische Union behoben, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit erzeugt, Europa eine Seele eingehaucht werden. Diese hohen Erwartungen gehen etwa aus der pathetischen Rede hervor, mit der Viviane Reding, EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Medien und Sport, die Kulturhauptstadt Graz 2003 eröffnete: „Ja, es gibt sie, diese Seele Europas. Es gibt sie im gemeinsamen Kulturraum, der sich zusammensetzt aus einer Vielzahl von Wurzeln, aus zahlreichen Geschichten, Legenden und Mythen von der Antike bis zur Moderne. Jede einzelne Wurzel, jedes einzelne Symbol, jedes einzelne Talent ist ein kleines Steinchen in einem großen Mosaik. Alle zusammen bilden sie das Kunstwerk Europa, in dem Don Quichotte, Faust, Falstaff und so viele andere zur Einheit in der Vielfalt finden.“ In ihrer Rede verweist Reding auf die vielzitierte Aussage von Jacques Delors, einen Binnenmarkt könne man nicht lieben. In der Begegnung mit Kultur jedoch könne man „Europa fühlen“, so Reding.
“Gemachte” Nationen
Warum erscheint eine gefühlsmäßige Bindung an den europäischen Staatenbund so wichtig? Wir wissen aus der neuen Nationsforschung (Ernest Gellner, Eric J. Hobsbawm, Benedict Anderson, Ruth Wodak u. a.), dass die Formierung kollektiver, nationaler Identitäten eng mit den Modernisierungs-, Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts verbunden, in deren Kontext auch die modernen Nationalstaaten entstehen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit bildet die Basis dafür, dass sich Menschen innerhalb der Grenzen eines Staates als Solidargemeinschaft verstehen und u. a. durch ihre Steuerleistungen den öffentlichen Sektor, z. B. Schulen, Universitäten, Museen, Theater, Krankenhäusern etc., finanzieren.
Identitäten von Gruppen, „Völkern“, Nationen sind somit nichts Naturgegebenes bzw. Selbstverständliches, sondern werden „gemacht“, sie sind das Ergebnis eines permanenten Ausverhandelns von Bedeutungen und Zuschreibungen. Dieses konstruktivistische Verständnis von Identität ist seit dem „cultural turn“, der kulturwissenschaftlichen Wende in den Humanwissenschaften, common sense. Daher kann sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuchen, Europa aus dem Geist einer gemeinsamen Kultur und Geschichte zu erbauen, nicht darauf beschränken, dass es sich dabei um eine Konstruktion handelt. Einwände wie „Zugehörigkeitsgefühle (lassen sich) nur schwer im Reagenzglas erzeugen“ (Teresa Reiter, Wiener Zeitung, 23./24.5.2015), greifen zu kurz.
Kultur + Geschichte = Identität?
Zu fragen ist, welche Vorstellungen von Europa mit dem alten „Zauberwort“ Kultur erzeugt werden. Die Formel „Kultur und Geschichte = Identität“ steht in der Tradition der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und spielt nach wie vor in den großen Erzählungen der Nationen eine hervorragende Rolle, obwohl die Analyse kollektiver Identitätskonstruktionen aufzeigt, welche problematischen Darstellungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich damit verbinden, vor allem:
Die Vorstellung von Kultur als Basis kollektiver Identität greift auf das Konzept der Kulturnation zurück, wie es vor allem von deutschen Vordenkern des Nationalen im 19. Jahrhundert geprägt wurde. Der Idee einer durch eine vorgeblich „gemeinsame“ Sprache, Kultur und Geschichte definierten Kulturnation, der jede und jeder qua Geburt angehört, steht das Konzept der Staatsnation gegenüber, in der nicht die Herkunft, sondern der Wille zur Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft ausschlaggebend ist.
Nationale Identitätskonstruktionen beruhen in der Regel auf der Vorstellung homogener kultureller Räume. Wenn sich europäische Identität explizit auf Vielfalt beruft, so bedeutet das zwar, dass der europäische Raum nicht mehr primär durch Nationalstaaten strukturiert wird. Der Slogan „In Vielfalt geeint“ geht allerdings auch von homogenen Räumen aus, die nun als Vielfalt regionaler, in sich einheitlicher „Mosaiksteine“ gedacht werden.
Identität und Gedächtnis sind untrennbar mit der Logik von Inklusion und Exklusion verbunden. Um das Eigene zu definieren, bedarf es der Abgrenzung zu einem Anderen. Die Rede von der „eigenen Kultur“, die es zu schützen und zu erhalten gilt, zieht eine Grenze zum „Anderen“ – d. h. nach außen, aber auch gegenüber „Fremden“ und Nichtzugehörigen in der eigenen Gesellschaft. Auf jeden Fall impliziert sich mit dem Begriff der „eigenen“ Kultur und Geschichte ganz automatisch die Grenzziehung zu etwas, das eben nicht diesem Eigenen entspricht.
Das demokratische Selbstverständnis
Versteht sich die EU als supranationaler Staatenverband, der dem Leitbild einer „inclusive society“ folgt, die alle Menschen umfassen soll, die innerhalb der Grenzen der Europäischen Union leben, so sind Identifikationen erforderlich, die diesem offenen, dynamischen Selbstverständnis entsprechen. Die Berufung auf Kultur und Geschichte läuft allerdings auch auf europäischer Ebene Gefahr, jene „Fallen der nationalen Identitätsstiftung“ aufzugreifen, „die stets mit Homogenisierungsstrategien auch gewaltsamer Natur, mit Ausgrenzung und Assimilation einhergingen“, so Thomas Meyer in seinem Buch Die Identität Europas – Der EU eine Seele?.
Gerade die jüngsten Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften – Aufstieg rechtspopulistischer, anti-europäischer Parteien, „illiberale“ Demokratien, Abbau demokratischer Grundrechte und Spielregeln etc. – führen vor Augen, dass europäische Identität nicht primär auf Kultur und Geschichte basiert, sondern auf den Grundregeln der liberalen Demokratie. Was Europa ausmacht, ist weniger die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur und Geschichte, sondern ein demokratisches Selbstverständnis, das es zu bewahren und verteidigen gilt.