Kevin Mitrega studiert in Krakau und Wien und blickt über den Tellerrand
Als ich im September 2016 von Wien nach Krakau gezogen bin, um dort mein Germanistikstudium fortzusetzen, erlebte ich einen Kulturschock der anderen Art. Für gewöhnlich »schockt« mich in der Anfangszeit ein gewisses Übermaß an Fremdheit, wenn ich an einen anderen Ort gelange. Nicht so in Polen. Vielmehr erstaunt mich die unerwartete Vertrautheit, die ich empfinde. Immerhin liegt Krakau näher an Wien als Innsbruck – vielleicht sind es ja die dezenten Nachwirkungen einer einst engen Verbundenheit, als die beiden Städte noch dem österreichischen Kaiser unterstanden. Denn dieser findet nicht nur in Wien Verehrung.
Tradition & Moderne
Befremdliche Momente begegnen mir erst im Alltag. Polen ist ein kontrastreiches Land. Die Kontraste tragen Widersprüchlichkeiten in sich, bergen aber dadurch auch eine große Vielfalt. Wahrscheinlich gibt es keinen zweiten Staat in der Europäischen Union, der den Spagat zwischen Tradition und Moderne so beherrscht wie Polen. Neben einem großen Hypermarket wird an einem kleinen Stand Gemüse verkauft. Während ich an der Kasse im Market bei einem Roboter kontaktlos mit Karte bezahle, suche ich am Stand akribisch nach Kleingeld, um möglichst genau bezahlen zu können. Wechselgeld scheint hierzulande eine Rarität zu sein.
In Polen lerne ich schnell, dass Tradition und Moderne nicht gegensätzlich wirken müssen. Wenn die beiden Momente miteinander in Dialog treten und sich gegenseitig bereichern, zeigt sich das große Potenzial, das hinter einem offenen Zugang steckt. So schön dies auch klingen mag, so groß kann manchmal die Distanz zur Wirklichkeit sein. Ein sehr bewegtes Jahr 2016 ist vor kurzem zu Ende gegangen. Und wenn es just in diesem Moment den Anschein haben könnte, mit dem Jahresende seien die Wogen geglättet: Dem ist leider nicht so.
Rechtsruck
Bereits vor meinem Umzug habe ich mich mit Polen beschäftigt. Mein Wissen setzt sich vornehmlich aus deutschsprachigen Medienberichten und Erzählungen von polnischen Verwandten und Bekannten zusammen. Die politische Situation in Polen hat sich in den letzten anderthalb Jahren stark verändert. Seit die nationalkonservative Partei PiS unter Jarosław Kaczyński mit absoluter Mehrheit regiert und zusätzlich die Präsidentschaft inne hat, ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Regelmäßig beobachte ich Kundgebungen im Zentrum Krakaus. Sie gehen recht unaufgeregt vonstatten. Auf großen Reklametafeln erinnert die linksliberale Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« in diesen Tagen – nicht zuletzt weil sie aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen ist – daran, dass in Polen stets die Menschen auf der Straße Veränderungen im Land herbeigeführt haben. Die politische Debatte ist durch eine Spaltung der Bevölkerung gekennzeichnet. Dieses trennende Moment scheint derzeit eine bedrückende Konstante in Europa zu sein.
Studienalltag: Kein Interesse an Politik?
Aus Wien bin ich es gewohnt, offen über Politik zu sprechen. Meinem Eindruck nach ist es in studentischen Kreisen üblich, regelmäßig über politische Themen zu debattieren. Anders in Krakau: Der Studienalltag erscheint weitgehend apolitisch. Ein Studium funktioniert hier auch grundlegend anders. Die Stundenpläne werden wie in der Schule von der Universität vorgegeben und bieten nur beschränkt Auswahlmöglichkeiten. Für die Organisation des eigenen Studiums ist man selbst nicht verantwortlich. Viele Studierende meiden Politik als Gesprächsthema. Man verhält sich distanziert und drückt sich bei heiklen Themen diplomatisch aus, um Konflikte zu vermeiden. Dennoch ist eine gewisse Unzufriedenheit zu spüren, auch wenn sie nicht immer artikuliert wird. Es fehle an Alternativen, so der Tenor.
Aufbruch vs. Konservative
Manchmal habe ich das Gefühl, dass viele mit der rasanten Entwicklung nicht Schritt halten können. Noch vor gut dreißig Jahren herrschten hier nicht vergleichbare Zustände. Die meisten Eltern meiner Kolleginnen und Kollegen können sich noch gut an die kommunistischen Zeiten erinnern, »in denen es nichts gab«, wie sie stets betonen. Heute gibt es alles. Viele Menschen sind in Strukturen aufgewachsen, die der Vergangenheit angehören, und die Jungen können sich gar nicht vorstellen, wie es der Elterngeneration einmal ergangen ist. Früher gab es keine Wahl – heute fragt man sich etwas orientierungslos, was man tun soll. Die Vielfalt an Möglichkeiten scheint Segen und Fluch zugleich zu sein.
Ich habe den Eindruck, viele ältere Menschen fürchten um ihre Traditionen. Für sie bedeuten traditionelle Vorstellungen Vertrautheit und Identität. Auf der anderen Seite formiert sich als moderne Reaktion eine avantgardistisch anmutende Bewegung in Aufbruchsstimmung, die den Konservativen Rückständigkeit vorwirft.
Der Schriftsteller Radek Knapp schreibt beispielsweise in seinem Buch »Gebrauchsanweisung für Polen« ironisch und treffend, die Polen fänden kinderlose Ehen suspekt und hörten dennoch auf die Priester, die keinen Nachwuchs haben dürften. In der Tat war ich darüber erstaunt, dass einige meiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen an der Universität bereits verheiratet oder verlobt sind. Bei manchen sind die ersten Kinder auf dem Weg.
Im ersten Augenblick passt auch dies überhaupt nicht in mein Bild eines studentischen Daseins, das ich aus Wien kenne. Dort gibt es unter meinen Kolleginnen und Kollegen – allesamt in den Mittzwanzigern – keine einzige Person, die verheiratet oder verlobt ist, geschweige denn dieses Thema überhaupt anspricht. Von meinen Freundinnen und Freunden geht auch niemand – soweit ich weiß – an einem gewöhnlichen Sonntag in die Kirche.
Studentenstadt Krakau
So befremdlich es mir anfangs erschien, so faszinierend finde ich es mittlerweile: Mein Bild von Studierenden hat sich nicht grundlegend verändert, sondern erweitert. Denn hier erlebe ich genauso junge Menschen, die fleißig lernen, arbeiten und fleißig feiern, die kulturell interessiert sind und sich der Familie sehr verbunden zeigen. Das Angebot der Kinos, Theater und Museen in Krakau sucht seinesgleichen und ist der studentischen Geldbörse sehr gewogen. Überhaupt genießen Studierende in Polen spürbare Vorteile und Rabatte, was den Status Krakaus als echte Studentenstadt zusätzlich unterstreicht. An den Wochenenden strömen unzählige junge Menschen mit Koffern und Rucksäcken in Bussen aus der Stadt, um aufs Land zu den Eltern und Großeltern zu fahren und dem Smog zu entkommen. Wer nun glaubt, die Stadt sei an den Wochenenden wie ausgestorben, irrt gewaltig. In Krakau wird täglich gefeiert, auch wenn es derzeit vielleicht wenige Gründe dafür geben mag.
Die Zukunft wird zeigen, in welche Richtung es geht. Innerhalb des Landes macht sich eine Politisierung bemerkbar. Der politische Diskurs rückt wieder stärker in den Vordergrund. Dies ist zu begrüßen, denn letzten Endes können die politischen Konflikte nur im Dialog ausgetragen werden. Polen ist eine junge Demokratie, ich habe nicht den Eindruck, dass der Optimismus die Menschen verlassen hat. Es ist wie eine Grundhaltung. Nicht umsonst lauten die ersten Worte der polnischen Nationalhymne: »Noch ist Polen nicht verloren!«
Wie in Polen Politik gemacht wird: Eine Factbox von Christian Diabl
Seit ihrem Wahlsieg 2015 arbeitet die mit absoluter Mehrheit regierende nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) daran, Polen in eine autoritäre oder illiberale Demokratie zu transformieren. Noch im selben Jahr wurde die Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichts massiv eingeschränkt, weshalb die EU-Kommission aus Sorge um den Rechtsstaat ein Verfahren gegen Polen eingeleitet hat. Höherrangige Verwaltungsposten werden nicht mehr öffentlich ausgeschrieben, sondern per Ernennung besetzt – die Opposition warnt deshalb vor einer „politischen Säuberung in der Verwaltung“.
Ähnlich wie in Ungarn spielt auch in Polen die Kulturpolitik eine zentrale Rolle im politischen Richtungswechsel. In der Regierungserklärung hielt Ministerpräsidentin Beata Szydło fest, dass Kulturpolitik „der Stärkung der patriotischen Einstellungen dienen“ müsse.
Mit einem umstrittenen Mediengesetz hat die Regierung den öffentlich-rechtlichen Sektor unter ihre direkte Kontrolle gebracht und damit den Ton der Berichterstattung spürbar verändert. Weiters ist geplant, die – oft in ausländischem Besitz stehenden – privaten Medien zu „repolonisieren“. Im Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ ist Polen deshalb in puncto Pressefreiheit im April 2016 auf den 47. Rang zurückgefallen.
Auch gesellschaftspolitisch krempelt die PiS-Regierung das ohnehin sehr konservative Polen um. Eine weitere Verschärfung der ohnehin schon restriktiven Abtreibungsgesetze konnte nur durch massive Proteste verhindert werden – über 100.000 Menschen waren alleine in Warschau auf der Straße.
Hier zeigt sich das „andere“ Polen: Die traditionell starke, meist urban geprägte Zivilgesellschaft leistet auf vielfältigste Weise Widerstand gegen die Politik der Regierung – mit Erfolg, so konnten zum Beispiel auch weitere Einschränkungen für die Arbeit von Journalist*innen im Parlament verhindert werden.
Insgesamt aber genießt die Regierung besonders in ländlichen Regionen nach wie vor große Unterstützung. Populär sind vor allem ihre sozialpolitischen Maßnahmen wie die Schaffung eines großzügigen Kindergeldes, die deutliche Erhöhung des Mindestlohnes und die teilweise Einführung kostenloser Medikamente für Senior*innen. Um die Zukunft des tief gespaltenen Landes wird weiter gerungen.