Manche mögen es tatsächlich vergessen haben, andere wollen es wohl vergessen machen: Das Kulturleitbild Oberösterreich. Seit 2009 durch einen einstimmigen Beschluss des Landtags in Kraft gesetzt, sollte es eine Handlungsorientierung für die Kulturpolitik, die Kulturverwaltung und die Kulturentwicklung in Oberösterreich darstellen.
Im Kulturleitbild OÖ (KLB) sind auf fast 50 Seiten Ziele, Zielgruppen und kulturpolitische Maßnahmen für die oberösterreichische Kulturpolitik erfasst. Überaus umfassend beschreibt es die Player und die Perspektiven des Kulturlandes, bekennt sich zu Gender Mainstreaming, initiativer Kulturarbeit, kulturellem Erbe und Kulturvermittlung; es verhandelt Volks- bis Hochkultur, denkt an Institutionen und Ehrenamtliche, erkennt Zusammenhänge zwischen Demokratie, Kultur, Globalisierung, Identitäten und Wirtschaft.
Was interessiert?
Von besonderem Interesse für die KUPF ist, dass das KLB eben nicht nur Landesmusikschulwerk, Musiktheater und Volkskultur benennt, sondern weit darüber hinausgeht. Es verwehrt sich gegen Rassismus, betont die Relevanz migrantischer Kulturarbeit, kultureller Nahversorgung und lobt die Rolle der Kulturinitiativen bei gesellschaftspolitischen Fragestellungen und der Regionalentwicklung. Es spricht sogar von HipHop-Communities und der KUPF.
Beim genauen Lesen fällt aber schnell auf: Die Freie Szene und ihre hohe Relevanz werden vor allem in den vollmundigen und deskriptiven ersten Kapiteln angesprochen. Bei den darauf folgenden konkreten Umsetzungsmaßnahmen kommt sie hingegen kaum vor. Sprich: Die Freie Szene wird seitenlang gestreichelt, um dann bei den Maßnahmen (dort wo die Sache konkret wird und es ums Geld geht) kaum noch aufzutauchen.
Anders bei den landeseigenen Einrichtungen – hier spricht das KLB sehr konkret von der „Errichtung eines Neuen Musiktheaters“ (check), dem „Neubau der Bruckner-Privatuniversität“ (check), dem „Ausbau der Landesbibliothek“ (check), der „Errichtung der Kunstsammlung Artothek des Landes“ (check) und so weiter und so fort.
Schauen wir uns anhand von vier Beispielen an, welche der im KLB geplanten Maßnahmen die Freie Szene betreffen sollten und was davon umgesetzt ist.
1. Kulturinitiativen und regionale Kulturhäuser
Das KLB betont die hohe Bedeutung der kulturellen Initiativen, Vereine und Kulturzentren und bekennt sich zu dezentraler Kulturarbeit. Es intendiert die „Stärkung dieser regionalen Zentren“, nachhaltige strukturelle Stärkung von KIs und die Vernetzung von diesbezüglichen Projekten. Das KLB kündigt die Entwicklung eines Vernetzungskonzepts für regionale Kulturhäuser an sowie die Förderung von Bildungsmaßnahmen für ehrenamtliche KulturarbeiterInnen. Lauter Punkte also, von denen sich zurecht auch die Freie Szene, also die zeitgenössischen Initiativen abseits der Institutionen und Körperschaften, angesprochen fühlen.
Es mag sein, dass das Land OÖ die Investitionen in die Landesmusikschulen als „Stärkung der regionalen Zentren“ auffasst – bei den unabhängigen Kulturzentren der Regionen, also etwa bei einem RÖDA Steyr, bei waschaecht Wels, oder bei der KAPU Linz und den anderen wurde diese „Stärkung“ nicht wahrgenommen. Die KUPF beziffert die Entwicklung des stagnierenden Budgetpostens für freie Kulturinitiativen, wenn man die inflationsbedingte Entwertung miteinbezieht, mit minus 20%. Wer die angekündigte „längerfristige Unterstützung der strukturellen Basis“ von Kulturinitiativen mit mehrjährigen Förderverträgen oder finanziellen Zuwächsen assoziiert, mag zwar Recht haben – umgesetzt ist aber nichts davon. Auch die angekündigten „Vernetzungsprojekte“ für Kulturinitiativen lassen auf sich warten. Ebenso wie die „besseren Serviceleistungen für bestehende Kulturarbeit“ und „die Weiterbildungsmaßnahmen für ehrenamtliche KulturarbeiterInnen“ werden sie allenfalls von der KUPF betrieben – wie schon vor dem KLB auch.
2. Freie Medien und Medienpädagogik
In den letzten Jahren hat sich neben der Begrifflichkeit der Freien Szene auch jene der Freien Medien etabliert. Gemeint ist meist subventioniertes, werbefreies und offen zugängliches Community- bzw. BürgerInnen-Radio oder -TV. Im KLB bekennt sich das Land, durchaus bezugnehmend auf die Freien Medien, zu einer pluralistischen Medienlandschaft, zur „Förderung nichtkommerzieller Medienprojekte, … [welche] lokale Kulturproduktion unterstützen“ und kündigt die „Einrichtung eines eigenen Förderprogramms für innovative Kultur- & Medienprojekte“ an sowie einen „Förderungsschwerpunkt für medienpädagogische Initiativen“.
Diesbezüglich geschehen ist wenig – wenn man von einer Neuausrichtung des von der Landeskulturdirektion monatlich herausgegebenen „Kulturbericht“ absieht. Weder hat das Land mit der dynamischen Entwicklung des Sektors der Freien Medien (mit stolzen vier Radios und einem TV-Sender hat unser Bundesland die höchste Dichte an Freien Medien in Österreich) mitgehalten, noch hat es die finanzielle Basis dieser Player auf nachhaltige Beine gestellt. Auf entsprechende Kritik im Landtag antwortete Kulturreferent Pühringer noch 2013, also vier Jahre nach Inkrafttreten des KLB, sinngemäß: die Freien Medien erhielten ohnehin eine Basisförderung aus der Presseabteilung, bei Interesse können auch gerne andere Ressorts projektbezogene Subventionen verteilen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
3. Frauen und Kulturbetrieb
Im KLB wird mehrmals die umzusetzende Gleichstellung der Geschlechter thematisiert, das Land macht daraus ein konkretes Vorhaben: „Zu den kulturpolitischen Zielsetzungen des Landes Oberösterreich gehört die völlige Gleichstellung der Geschlechter im Kultur- und Kunstbereich.“ Das KLB kündigt dazu die „regelmäßige Umsetzung von frauenspezifischen Schwerpunkten bei Großveranstaltungen“ sowie „Förderung von Maßnahmen, die Projekte von … weiblichen Kulturschaffenden unterstützen“ an.
Zumindest an der Oberfläche hat sich im männerdominierten Kulturleben aber seit 2009 nichts verbessert: Die Top-Jobs sind fast ausnahmslos in der Hand von Männern, frauenspezifische Ausschreibungen oder gezielte Frauenförderungsprogramme wird man vergeblich suchen. Die ertragreichen „großen“ Landeskulturpreise gehen nach wie vor an Männer – wobei sich das Land dabei tatsächlich an Empfehlungen der paritätisch besetzten Jurys hält, detto bei den viel kritisierten Vergaben der Kunst am Bau–Aufträge. Der Wurm liegt tiefer begraben, und wer die Ansprüche des KLB tatsächlich erfüllen möchte, kommt um folgende Fragen nicht herum: Warum scheinen die bestehenden Kriterien, Muster und Anforderungen fast nur von Männern erfüllbar? Welche langfristigen Maßnahmen sind notwendig, um die „völlige Gleichstellung der Geschlechter im Kultur- und Kunstbereich“ tatsächlich zu erreichen?
Wir sprechen in realitas also einmal mehr von den unbeliebten, aber recht praxistauglichen Quotenregelungen, vom Thematisieren und Zerschlagen der gläsernen Decken und von gezielter Frauenförderung. Alles Themen, die in der aktuellen Kulturpolitik keine merkbare Rolle spielen.
4. Kunst am Bau
Kunst am Bau meint in der Regel die Aufwendung eines Teils öffentlicher Bauausgaben für Kunst, zumeist für Kunstinstallationen in öffentlich finanzierten Bauten. Kunst am Bau kann man in und auf diversen Genossenschaftshäuser-Fassaden, Schulen, im Linzer Wissensturm oder Musiktheater besichtigen. Das KLB erkennt diese (seit langem kritisch diskutierte) Praxis als suboptimal und gelobt die „Weiterentwicklung und Erweiterung des Aufgabenfeldes Kunst am Bau“, es intendiert folgerichtig auch die „Neuregelung von Kunst am Bau im Sinne einer Erweiterung zu Kunst im öffentlichen Raum“. Speziell für freischaffende KünstlerInnen und Kollektive bieten Kunst am Bau-Töpfe wichtige Arbeitsmöglichkeiten. Umso dringlicher erscheint angesichts diverser Prekariatsstudien die sorgfältige Ausrichtung derartiger Töpfe. Die KUPF hat in der letzten Ausgabe dieser Zeitung als Alternative zum hiesigen Modell (1,5 % der Baukosten sind für künstlerische Gestaltung aufzuwenden) das ungleich erfolgreichere niederösterreichische Modell vorgestellt. Dieses hat die Kunst am Bau-Gelder von konkreten Bauvorhaben losgelöst und in einen zentralen Topf für Kunst im öffentlichen Raum gesteckt, aus dem jährlich etwa 20 Projekte von KünstlerInnen realisiert werden – oft in Zusammenarbeit mit Gemeinden oder Initiativen. Kein perfektes Modell, aber sicher einen Blick wert und deutlich näher am KLB als die oö. Praxis. Eine konsequente Umsetzung würde große Geldsummen im zeitgenössischen Kunstbereich umschichten, die dann von kuratierenden ExpertInnen vergeben werden könnten.
Parlamentarische Kontrolle
Seit der Beschlussfassung im Landtag sind sieben Jahre verronnen. Die Umsetzungsberichte, die der Kulturausschuss des Landtags dem Landesparlament dazu vorzulegen hat, tragen die Handschrift von Volkspartei sowie Landeskulturdirektion und sind weniger vom Geist der kritischen Selbstreflexion als von einer unbestimmten Rechtfertigungshaltung getragen. So wird darin etwa die jährliche Kulturumfrage, welche die Meinung und Zufriedenheit der Bevölkerung zum Kulturleben in OÖ abfragt, als Indiz für eine erfolgreiche Umsetzung des Kulturleitbildes angeführt. Der Zusammenhang scheint dürftig – schließlich thematisiert diese Studie in keiner Weise die erfolgte politische Umsetzung eines Leitbildes, sondern die Stimmung der Befragten. Die Umsetzungsberichte geben keinerlei Auskünfte über wissenschaftliche oder budgetäre Kennzahlen, keinerlei Anhaltspunkte über budgetäre, strategische, personelle oder inhaltliche Folgen des KLB. Sie verweisen stolz auf die „größte kulturelle Bauoffensive in der Geschichte des Landes“ (richtig: Musiktheater!) und zählen Unternehmungen, Ausstellungsformate und BesucherInnenzahlen der Landeseinrichtungen auf.
Dahingehend sind die Umsetzungsberichte zumindest ehrlich: Sie versuchen erst gar nicht, etwaige Fortschritte oder Verbesserungen für nicht-institutionelles Kulturschaffen im Lande zu behaupten oder die großen Themen (Frauenförderung, Medienförderung, budgetäre Umverteilungen), … auch nur anzuschneiden. Aber selbst der/die gelernte KulturarbeiterIn (sprich: jemand ohne große Erwartungen) bleibt nach der Lektüre der Umsetzungsberichte ernüchtert zurück: Das soll alles gewesen sein?
Politische Konsequenzen
Dennoch möchte ich das KLB nicht als wertloses Papier verteufeln, dennoch warne ich davor, das KLB als weiteren Ziegelstein der kulturarbeiterischen Politverdrossenheit zu betrachten. Warum?
Das KLB ist erst sieben Jahre alt. Eine lange Zeit für Kulturpolitik, möchte man meinen, aber allenfalls Halbzeit für ein derartig großes Kulturentwicklungs-Projekt; ExpertInnen sprechen derartigen Leitbildern eine Haltbarkeit von 10 bis 15 Jahren zu, mit etwas gutem Willen sprechen wir also derzeit von erst einer absolvierten Halbzeit, die noch viel Platz und Luft für die zweite Spielhälfte ließe. Es liegt an der Kulturpolitik und -verwaltung, die nicht- und teilinstitutionellen Zielsetzungen des KLB nun aktiv anzugehen. Nicht zuletzt die roten und grüner KulturpolitikerInnen könnten in ihrer oppositionellen Haltung zur schwarz-blauen Koalition in OÖ das KLB intensiv studieren und damit Politik betreiben. Das KLB birgt viele kulturpolitische Argumente und Zielsetzungen, die in den kulturpolitischen Debatten, aber auch in den anstehenden Verteilungskämpfen zum Einsatz kommen können. Das Kulturleitbild ist neben dem Kulturfördergesetz eine der wenigen rechtlichen Grundlagen für öffentliche Kulturfinanzierung und bildet verbindliche Argumentationsbasen für Kulturschaffende, was besseres kommt vorerst nicht nach. Die erstarkte FPOÖ möchte wohl das Kulturleitbild, ebenso wie das Integrationsleitbild, am liebsten ganz neu aufstellen oder gar abschaffen. Wir könnten uns in diesem Falle noch wundern, was alles geht.
Das Kulturleitbild steht auf der Website des Land OÖ zum Download bereit.