Ein Foto für die Gespenster

Russinnen, sagte eine in Wolgograd, würden keinen Wodka trinken, und bestellte eine Karaffe für die österreichischen Gäste. In Wolgograd, wo die Wolga so breit ist wie der Hallstätter See, wo ein Rudel Straßenhunde den absurd schnellen Bau des Stadions für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 überwacht und dahinter am Mamaj-Hügel die Mutter-Heimat-Statue ihr 33 Meter langes Metallschwert in den Himmel streckt.

Wolgograd, ehemaliges Stalingrad. Warum der Großonkel nie von dort zurückgekommen ist, habe ich als Kind nicht verstanden, warum einer bis nach Russland fährt und stirbt, wenn er fällt, warum einer auf dem Grabstein steht, der nicht hier liegt. Was genau er dort machte und was er darüber dachte, weiß ich bis heute nicht. 28 Jahre wurde er, der Onkel Franz, ein wenig jünger als ich heute, ein wenig älter als die beiden Studentinnen, die mir nach unserer Schreibwerkstatt das Museum zur Schlacht von Stalingrad zeigen. Beide studieren Englisch und Deutsch als Zweitfach, die eine fährt jeden Tag zwei Stunden zur Uni und hat in den USA als Aupair-Mädchen gearbeitet, die andere verkauft in einem Callcenter Cremen an Menschen in Berlin. Wir sehen uns gemeinsam eine Animation zum Schlachtverlauf an, kleine Kreise, die größer werden und wieder zurück, darunter läuft russischer Infotext. Was heißt das?, frage ich an einer Stelle. Schade, ich habe heute nur 85 deutsche Soldaten getötet, übersetzt eine Studentin. Dann sehen wir wieder den Kreisen zu.

Später erzählt eine der beiden von ihrer Großmutter, die nicht wollte, dass sie Deutsch lernt und die andere vom Großvater ihrer deutschen Gastfamilie, der sie nicht sehen wollte, weil sie Russin ist. Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klaps ein Japs, höre ich die Gespensterstimmen, als wir draußen vor der zerschossenen Mühle ein Foto machen, dieses furchtbare nationalistische Geheul.

Zwei Geschichten sind vom Onkel Franz geblieben: Die eine ist, dass er in Stalingrad gefallen ist und von dort nie wieder zurück kam. Die andere ist, dass er als Kind in den Bach fiel und gerade noch rechtzeitig herausgezogen wurde. Bin ich jetzt ertrunken?, fragte er danach, als er wieder in der Wiese stand.