Oft bemüht, viel beschworen, manchmal vergeblich gesucht und gerade jetzt unverzichtbar. Wer die Zivilgesellschaft in Aktion sehen will, braucht dieser Tage nur zur Drehscheibe am Linzer Hauptbahnhof kommen. Dort versammeln sich jeden Abend diejenigen, die der Staat fallen gelassen hat. Weit mehr als 100 obdachlose Refugees warten hier in der Kälte darauf, dass Private vorbeikommen und sie über Nacht mit nach Hause nehmen. Ganze Familien, für die sich von offizieller Seite niemand zuständig fühlt, weil sie zwar in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, aber noch nicht in der Grundversorgung sind. Die Zivilgesellschaft springt ein und verhindert das Schlimmste. Vor diesem bemerkenswerten Hintergrund haben wir gleich drei Lesetipps, die ganz unterschiedliche Aspekte der Zivilgesellschaft beleuchten: ihre Chancen, ihre Grenzen und auch ihre schmutzige Seite.
Letztere manifestiert sich seit gut einem Jahr in der gespenstischen Erscheinung von PEGIDA, der ein Göttinger Autorinnenteam beobachtend, interviewend und analysierend auf den Leib gerückt ist. Besonders auffallend ist, dass hier keineswegs die sozial Schwachen gegen noch Schwächere auf die Straße gehen, sondern der gut situierte und gebildete Mittelstand. Denn sowohl für progressives als auch destruktives Engagement gilt: Menschen in prekären Lebenslagen – und das ist das Thema unserer zweiten Empfehlung – gelingt es höchstens ansatzweise, sich gemeinsam als Interessengruppe zu organisieren oder gar Gehör zu finden.
In «Armut und Engagement» untersucht Leiv Eirik Voigtländer die Hintergründe dieses Phänomens und beschreibt neben anderen Ausschlussmechanismen auch die Rolle des Sozialstaates, der – soviel darf verraten werden – die Menschen zwar überleben lässt, aber oft nicht als intaktes bürgerliches Subjekt.
Unser dritter Buchtipp «Zivilgesellschaft und Soziale Arbeit» wiederum untersucht Soziale Arbeit als Treiber zivilgesellschaftlicher Entwicklung in Rumänien und Deutschland und fragt nach der Rolle, die sie im Prozess des sozialen Wandels – auch auf europäischer Ebene – einnimmt bzw. einnehmen könnte. Wie stark die Zivilgesellschaft sein kann, sieht man übrigens jeden Abend am Hauptbahnhof. Bislang ist dort noch niemand übrig geblieben.
Leiv Eirik Voigtländer, Armut und Engagement. Zur zivilgesellschaftlichen Partizipation von Menschen in prekären Lebenslagen, Bielefeld 2015.J. Sagebiel,
A. Muntean, B. Sagebiel (Hg), Zivilgesellschaft und Soziale Arbeit. Herausforderungen und Perspektiven an die Arbeit im Gemeinwesen in Rumänien und Deutschland, Neu-Ulm 2015.
Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015.