Im Frühling waren Aktivistinnen der oberösterreichischen Fraueninitiative Mirabal im türkisch-syrischen Grenzgebiet unterwegs. Thomas Rammerstorfer hat sie begleitet. Bilder einer Region auf der Schwelle zum Krieg.
Diyarbakır, auf kurdisch Amed, wird gerne als die heimliche Hauptstadt Kurdistans bezeichnet. Von Heimlichkeit ist aber nicht mehr viel zu sehen. Die pro-kurdische Partei regiert hier mit satter Mehrheit, die Straßen und Souvenirstände sind geprägt von den kurdischen Farben: rot, gelb, grün. Selbst in Amtsgebäuden hängen Öcalan-Portraits. Die Türkei scheint hier weit weg. Sie ruft sich in Erinnerung durch gepanzerte Wasserwerfer und Räumfahrzeuge, die an allen großen und vielen kleineren Kreuzungen stehen – Tag und Nacht, mit eingeschaltetem Blaulicht, eine Erinnerung an die erodierende Macht des Zentralstaates: Hallo, wir sind auch noch da! Jedes dieser weißen Fahrzeuge ist gesprenkelt durch unzählige dunkle Punkte; dort wurden sie von Steinwürfen getroffen, der Lack ist ab.
Überall in Kurdistan im Frühling 2015. Nach drei Jahren bin ich wieder in dieser Gegend. Einiges hat sich verändert. Trotz des Krieges in Syrien, trotz Elends, Unterdrückung – die Menschen gehen hier jetzt aufrechter. Man hat in Syrien den IS besiegt, freilich noch nicht ganz; aber das von der YPG gehaltene Gebiet hat sich 2015 verdoppelt. Hier beginnt man damit, den «demokratischen Konföderalismus», einen basisdemokratischen, ausgesprochen pro-feministischen Sozialismus umzusetzen. Staat will man keinen. Staaten haben genug Schaden angerichtet.
Flüchtlingslager für YezidInnen, in der Nähe von Amed (Diyarbakır). Die KurdInnen haben ein Mädchenzentrum eingerichtet. Hier wird unterrichtet, gebastelt, Tee getrunken. Die Fraueninitiative Mirabal kauft mit Spendengeldern das Nötigste. Vor acht Monaten ist die Welt der Mädchen in einem Inferno aus Mord, Vergewaltigung und überstürzter Flucht untergegangen. Jetzt sitzen sie hier, ernst und fleißig bei der Handarbeit, unter einem Poster, das KämpferInnen der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten zeigt.
Diyarbakır. Ein Gespräch mit Feleknas Uca. Als Yezidin in Deutschland geboren, war sie Abgeordnete im EU-Parlament für die «Linke» (seit Juni ist sie Abgeordnete der HDP im türkischen Parlament). Als der IS im Sommer 2014 mit dem Völkermord an den irakischen YezidInnen begann, zog sie in die Region und hilft seither vor Ort. Sie ist müde, war die ganze Nacht im Irak unterwegs, aber unermüdlich. Die yezidische Gesellschaft wurde vernichtet. Die Überlebenden sind irgendwo in der Region verstreut, in Flüchtlingslagern, in den Bergen, manche haben sich der YPG oder PKK angeschlossen. Andere, insbesondere Frauen, wurden gefangen, versklavt und verkauft. Uca hilft etwa dabei, befreite Sklavinnen zu ihren Familien zurückzubringen. Oder was davon übrig ist. Was sie erzählen, was Uca erzählt, ich will es nicht wiedergeben. Haben wir 2015? Sind wir Menschen?
Diyarbakır (nein, Amed!) Frühling 2015. Ein Taxifahrer klappt seine Brieftasche auf und zeigt mir ein Bild Abdullah Öcalans. «Das ist mein Vater», sagt er.
Grenze zu Kobane, Frühling 2015. Wenn man diese Schlacht mitverfolgt hat, über Tage, Wochen, Monate, via Twitter, Streams und You Tube-Videos, dann hat man das Gefühl, nun vor einer Filmkulisse zu stehen. Mehr sogar, plötzlich auf irgendeine Art und Weise in eine Filmszenerie gesaugt worden zu sein. Da steht er, der Sendemast, auf den der IS seine Flagge gehisst hat. Jetzt wehen dort der rote, der grüne und der gelbe Streifen Kurdistans über der Stadt. Die ist weitestgehend zerstört. Wir sind sprachlos.
Amed, Frühling 2015. Ich interviewe einen Aktivisten der PKK. «Die PKK ist nicht die Partei der Kurdinnen und Kurden, sondern aller Menschen, die hier leben. Egal ob türkisch, kurdisch, armenisch, arabisch. Wir setzen uns für alle Unterdrückten ein. Auch für die Homosexuellen, denn die sind auch ein unterdrücktes Volk.»
Grenze zu Kobane, Frühling 2015. Wir stehen seit einer Stunde am Grenzzaun, filmen, fotografieren, gucken durch Ferngläser, die uns Einheimische gereicht haben (sie stehen jeden Tag hier, sagen sie). Fünf türkische Soldaten kommen. Junge, unsichere Burschen, in zu großen Uniformen und mit zu großen Gewehren. Hier dürfe man nicht filmen und fotografieren, sagen sie, und wir machen das jetzt schon eine Stunde, und jetzt sollten wir endlich aufhören. Recht überzeugend klingen sie nicht, aber wir sind ohnehin am Aufbrechen. Ich denke, hoffentlich bekommen die Jungs keinen Ärger mit ihren Vorgesetzten, und heute denke ich mir außerdem noch, hoffentlich werden sie nicht von der PKK erschossen. Oder erschießen sich selbst, aus Versehen oder aus Verzweiflung. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, dass sie wen töten könnten, so unschuldig haben sie ausgesehen.
Amed, Frühling 2015. Ich interviewe einen Aktivisten der PKK. Er kommt gerade aus dem Gefängnis, Dort wurden wir sehr gut geschult. Es droht ihm eine weitere Gefängnisstrafe, vielleicht noch acht Jahre, vielleicht elf. Ob er nach Syrien gehen würde, kämpfen? Sicher, wenn die Partei es so beschließt. Und wenn er nicht möchte? Dann würde die Partei das auch akzeptieren. Es würde Kritik geben, aber sie würde es akzeptieren.
Flüchtlingslager für KurdInnen in Suruç, Frühling: Die Kinder sind gut gelaunt und lassen in Sprechchören Abdullah Öcalan, die PKK und die YPG hochleben. Sie freuen sich aufs älter werden, sagen manche, dann können sie endlich in den Krieg ziehen.
Suruç, Frühling. Der Park des Amara- ulturzentrums ist eine schattige, grüne Oase in dieser Stadt, in der überall alte Autos und Pferdekarren um die Wette stinken und stauben. Wir albern etwas rum, schießen Erinnerungsfotos auf den schönen Holzstühlen. Die Stühle sehe ich am 20. Juli wieder auf Fotos, sie sind umgekippt, verstreut, dazwischen liegen die Leichen von 33 Jugendlichen.
Seit 1984 kämpfen die KurdInnen in der Türkei unter Führung der kurdischen ArbeiterInnenpartei PKK um mehr kulturelle und soziale Rechte. 2013 erklärte die PKK eine Waffenruhe und ihren Rückzug aus der Türkei in den Nordirak. Nach dem Anschlag des IS in Suruç, an dem die KurdInnen der Türkei Mitschuld geben, und Angriffe der Türkei auf die PKK-Stellungen im Irak wurde die Waffenruhe beendet. Seither sterben wieder nahezu täglich Menschen bei den Auseinandersetzungen.
Die HDP, Halkların Demokratik Partisi, ist eine Partei der prokurdischen und anderer progressiver Kräfte in der Türkei. Sie zog im Juni 2015 ins Parlament ein und verhinderte so eine neuerliche absolute Mehrheit der AKP. Noch wurde aber keine Regierung gebildet, wahrscheinlich gibt es im November Neuwahlen. Viele Menschen werfen der AKP vor, die Lage in den kurdischen Gebieten bewusst eskaliert zu haben, um bei Neuwahlen doch noch die absolute Mehrheit zu erlangen.
In Syrien kämpfen die Schwesterpartei der PKK, die PYD bzw. deren bewaffnete Arme, die Volks- bzw. die Frauenverteidigungseinheiten (YPG bzw. YPJ) gegen den IS. Dabei kooperieren sie recht erfolgreich mit der US-geführten Koalition und den irakisch-kurdischen Peshmerga.
Fotos: Thomas Rammerstorfer
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