Die Erfindung der Kreativität

Mit dem Förderprogramm „Kreatives Europa“ will die Europäische Kommission strukturell den Ausbau eines Kultur- und Kreativsektors stärken. Ein Europa, das sich zunehmend über kulturelle und kreative Leistungen definiert, kann mit Andreas Reckwitz als Symptom für das von ihm herausgearbeitete Kreativitätspositiv einer postmodernen Gesellschaft gelesen werden, einer Gesellschaft, in der jede_r kreativ sein will, und es auch sein soll. Gefragt sind nicht mehr angepasste Fabriksarbeiter_innen, im Postfordismus stehen Menschen im Zentrum, die bereitwillig mit einer Überwindung von Privatem und Beruflichem ihre Subjektivität kreativ entfalten wollen – und müssen.

Reckwitz stellt dar, wie sich das kreative Subjekt aus historischen Künstler(leider nicht: _innen)figuren ableiten lässt: Während Künstler_innen-Genies früher als deviante Personen galten, ist ein originelles, schöpferisches Leben heute anzustrebendes Ideal, und das „nichtimitierbare Ideal-Ich des auratischen Künstlers“ kehrt sich im Lauf des 20. Jahrhunderts „in ein imitierbares Ideal-Ich, das des kreativen Selbst“ um. Damit einhergehend breitet sich eine Ästhetisierung, ehemals dem Kunstfeld vorbehalten, auf alle Lebensbereiche aus, indem sich Kunst und andere Felder strukturell aneinander angleichen: Das ästhetisch Neue wird zum Strukturmodell für eine Gesellschaft im ästhetischen Kapitalismus. In einer solchen Ökonomie geht es nun nicht mehr um Informationen, „sondern um die Zirkulation von Symbolen, sinnlichen Erfahrungen und Emotionen“, der ästhetische Kapitalismus bemüht sich um Affekt-Effekte.

Das erste und das letzte Kapitel bilden eine theoretische Klammer, in der Reckwitz seine Ausführungen der dazwischen liegenden Kapitel zur Formierung des modernen Kunstfeldes, zur Selbstentgrenzung der Kunstpraktiken, zum Aufstieg der ästhetischen Ökonomie, zur Psychologisierung der Kreativität, zur Genese des Starsystems und zur Kulturalisierung der Stadt zusammenfasst und reflektiert. Je nach Interessensschwerpunkt sind die Kapitel unabhängig voneinander lesbar.

Nachdenklich stimmt die daraus resultierende Bewegung der postmodernen Subjekte zwischen Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung. Als Alternativformen schlägt Reckwitz profane Kreativität – eine Kreativität, die nicht auf ein Publikum ausgerichtet ist und sich jenseits von Aufmerksamkeitsmarkt und Steigerung bewegt – und eine Ästhetik der Wiederholung (ästhetische Praktiken, die sich nicht am Regime des Neuen, sondern an der Routinisierung und Wiederholung orientieren) vor.

 

Andreas Reckwitz, die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp 2012.