Ein Hörlehrstück

Ein Hörstück will gehört werden, bin ich streng mit mir. Und ignoriere vorerst das feine Büchlein, entnehme nur die erste der beiden CDs und lege diese in mein Abspielgerät. Ohne näheres darüber zu wissen, begegne ich ganz unterschiedlichen Stimmen, knisternden Musik- und Geräuschflächen. Die Stimmen, die ich zu hören bekomme, sprechen von Masse, deren Phänomenen, von Befehl, Tod, Kampf oder Leben. Das Leben ist da. Das Leben ist da. Hört man bald, repetierend. Ich höre Stimmen, die ich in ihrer beängstigend beschwörenden Diktion eindeutig im Dritten Reich verorte. Aber auch welche, die sich erklärend diesen Themen widmen. Deren Stimmen klingen ganz anders: Sanfter, klarer, ohne der Mission und dem Leistungsdruck der Machtausübung. Dieses Hörstück ist ein Denkstück, denke ich mir und bin fasziniert von wechselnden Stimmklängen, die ich immer schneller zuordnen kann, deren Position ich schon am Klang zu erkennen vermag. Für den zweiten Hördurchgang greife ich zum Buch und lese mit. Das (Nach-)Denken nimmt kein Ende. Der Künstler Ingo Leindecker hat dieses vielschichtige Hörstück geschaffen. Eine sinnliche Denkfläche, auf der er politische Reden und Berichte zwischen 1914 und 1945 mit zeitgenössischen Beiträgen aus Literatur, Philosophie, Soziologie und Psychologie verschränkt hat und diese mit Musik und Geräuschen zu einer künstlerischen Erzählung erhebt, um sie eben begehbar, erfahrbar, nachdenkbar zu machen. Man findet sich in einem genial angelegten Wechselbad zwischen Altvorderen des Dritten Reichs und dem Psychologen Arno Gruen, dem Theologen Eugen Drewermann und einigen anderen mehr. Und vor allem Elias Canetti, dessen 1960 erschienenes Hauptwerk „Masse und Macht“ Angelpunkt dieser knisternden Denk- und Fühlfläche ist. Die Dutzenden Stimmen fallen sich ins Wort, kommentieren einander, geraten in einem nie und nimmer beabsichtigten Diskurs aneinander: „TODABLEITER – Überleben und Tod, Masse, Macht und Gewalt“ heißt Leindeckers Hörstück. Es ist in seiner vexierbildhaften Anlage ein Meisterstück, ein Hörlehrstück ohne pädagogische Grundmission, die einen mehr als nur in einen massenpsychologischen Diskurs hineinwirft. Ein Hörstück, das Masse näher bringt, still aufdeckt, entpuppt und vieles mehr. Und dieses Hörstück selbst will immer wieder gehört werden, um darüber dem Leben und Überleben in der Masse auf der Spur sein zu können. Gehört gehört, um einen massentauglichen Slogan anzuwenden.

 

Ingo Leindecker, Todableiter. Überleben und Tod, Masse, Macht und Gewalt. Ein Hörstück. Linz 2013.

http://todableiter.servus.at/

 

Vorführungen:

21. März – 27. April TRANSPOSITION.CHANGE, NÖ Dokumentationszentrum für moderne Kunst, St. Pölten

4. April Lange Nacht der Forschung, Kunstuniversität Linz

12. Juni OKH – Offenes Kunst- & Kulturhaus Vöcklabruck