Wir alle sind Postmigrantinnen

Julia Engelmayer nähert sich dem Begriff des Postmigrantischen Theaters.

Migration ist gesellschaftlicher Alltag und sollte dementsprechend auch auf dem Theater eine Rolle spielen. Zum Begriff des Postmigrantischen Theaters.

„Nicht nur wir müssen uns integrieren, sondern alle müssen sich zur Realität hin integrieren“, bringt Asli Kislal das Programm des Postmigrantischen Theaters auf einen Punkt. Kislal sitzt auf der Bühne im Wiener Theater Garage X und diskutiert über das Thema, das den deutschsprachigen Theaterbetrieb derzeit am meisten beschäftigt. Kislal ist Regisseurin, Gründerin der Gruppe daskunst und Mitorganisatorin des Festivals für Postmigrantische Positionen, „Pimp my Integration“ in der Garage X. Es ist mittlerweile zum Laufbandwitz geworden, dass sie das Festival am liebsten „Integrier mich doch am Arsch“ genannt hätte. Kislal: „Wir alle sind Postmigranten. Wir alle leben in einer postmigrantischen Realität.“

Angestoßen wurde die dramaturgische Bewegung durch die Arbeit der kleinen 99-Plätze-Bühne Ballhaus Naunynstraße in Berlin Kreuzberg und der Aufsehen erregenden Uraufführung des Stückes „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje. Die Berlin-Premiere im Herbst 2010 fiel mitten in die heiße Zeit der Sarrazin-Debatte. Schon der Titel wirkte wie ein lautes Kontra. Aber „Verrücktes Blut“ und das Programm des Ballhaus Naunynstraße waren mehr als nur ein Kommentar zur populistisch aufgeheiztenTagespolitik. Sie sind Visionsstifter und
Vorbild geworden.

Postmigrantisches Theater zielt auf die selbstverständliche Partizipation und Repräsentation des migrantischen Fünftels der Bevölkerung ab. Geprägt wurden der Begriff und der dahinterstehende Imperativ von Shermin Langhoff, Intendantin des Ballhaus Naunynstraße. Gemeint ist Theater, das sich für heutige Lebensrealitäten interessiert und die gesamte Gesellschaft in ihrer Vielheit abbildet. Ästhetisch geht es dabei nicht um Heimatfolklore, sondern um zeitgenössische Narrative aus einer multikulturellen Welt. Insofern zählen für Shermin Langhoff nicht nur Künstler mit Migrationshintergrund, sondern beispielsweise auch Rene Pollesch und Rainer Werner Fassbinder zu postmigrantischen Theatermachern. Der Themenkomplex ist weit gefasst und betrifft das migrantische Jugendtheater im sogenannten Problembezirk gleichermaßen wie die Tatsache, dass Shermin Langhoff im letzten Mai zur Co-Intendantin der Wiener Festwochen ab 2014 designiert wurde.

Wenn über Postmigrantisches Theater diskutiert wird, kommt man um einen Namen nicht herum: Mark Terkessidis (Vgl. S. 6). Sein Buch „Interkultur“ ist zur Theoriegrundlage der Debatte geworden. Der Titel zielt nicht auf die Verbindung unterschiedlicher Kulturen ab, Interkulturen, sondern bedeutet Kulturim- Zwischen. Es geht nicht darum, so Terkessidis, bestehende Unterschiede einfach zu respektieren, sondern neue Beziehungen zu knüpfen. Die Herausforderung einer pluralistischen Welt als Chance zu nutzen. Für den Kulturbetrieb wünscht er sich „Möglichkeitsräume“, in denen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft frei bewegen. Räume, in denen neue Strukturen, Themen und Formen entstehen. „Das würde dem Kulturbetrieb gut tun, dem es ohnehin oft an Legitimation mangelt.“

Häufig fällt der Wunsch nach einer Migranten-Quote, vor allem für Ausbildungsstätten. Vertreter der Institutionen reagieren da meist skeptisch. Margarete Pesendorfer, Leiterin der Theaterabteilung der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, meint: „Eine Quote bringt nichts. Wenn jemand begabt ist, nehmen wir sie oder ihn ohnehin.“ Die Berufschancen für migrantische Schauspielerinnen („Die deutsche Sprache nahezu akzentfrei zu können, ist Grundvoraussetzung!“) sieht Pesendorfer momentan sogar überdurchchnittlich gut. Beispielsweise seien für einen türkisch aussehenden (tatsächlich deutsch-italienischen) Studenten bereits mehrere Anfragen gekommen.

Necla Tuncel, Obfrau des Linzer Integrationsvereins ADA, bestätigt die Forderung nach Partizipation aus ihrer Erfahrung: Obwohl der Verein ADA in Zusammenarbeit mit dem Theater Phönix seit vielen Jahren sehr erfolgreich eine interkulturelle Jugendtheatergruppe betreibt, die deutschsprachige Stücke spielt, gehen die Bekannten und Mitglieder des Vereins nur ganz selten ins Theater. Wenn Migranten mitspielen würden, wäre das anders. „Auch weil der Humor ein anderer ist. Ich selbst verstehe den türkischen Humor manchmal nicht mehr. Man muss gemeinsam was Neues finden.“

Literatur: Wolfang Schneider (Hg.): Theater und Migaration, transcpript Verlag, Bielefeld 2011

Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, Landestheater Linz, Regie: Asli Kislal, Premiere: 7. April 2012
Unterm Herzen von Jan Demuth, Verein ADA und Theater Phönix, Regie: Brigitte Waschnig,  Premiere: Juni 2012
Theater mocht mi-grantig Veranstaltung der Assitej 12. Juni 2012