Erika Doucette über Amsterdam mit ihrer berühmt berüchtigten Hausbesetzterinnen-Szene.
Die in einer Stadt lebenden Menschen sollten an der Gestaltung und Nutzung der öffentlichen Räume aktiv beteiligt sein. Dies gilt genauso für die Kulturlandschaft. Sie sollten ihren Anforderungen und Begehren entsprechende Alternativen nicht nur entwerfen, sondern in ihrer Umsetzung eine aktive Rolle spielen. Dies soll vor allem den städtebaulichen Plänen der Verwaltungen entgegengesetzt werden. Denn die Nutzung gemeinsamer sozialer Räume sollte von unten konzipiert werden—d.h. nicht von den kapitalistischen Nutzbar-Machern sondern von Nutzerinnen der Community aus.1
Die spätestens seit den 1980er, der Blütezeit der Hausbesetzerinnen-Szene, berühmt berüchtigte Stadt Amsterdam scheint wenig an Anziehungskraft verloren zu haben. Sie leuchtet für Hausbesetzerinnen aus aller Welt immer noch wie ein Nordstern. Eine Hauptattraktion für die nach Amsterdam strömenden Kulturarbeiterinnen und Künstlerinnen ist, dass die Besetzung von Wohn-, Arbeits-, Veranstaltungs- und Atelierräumen seit den sozialen Bewegungen in den 1960er Jahren nicht nur legalisiert wurde, sondern auch weiterhin kultiviert wird. Es gibt einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen, praktische Erfahrungen, reale Orte für Koordination und Austausch von Aktionsplänen und Utopien. Dazu wird die Szene immer von neuer Energie gespeist, die durch den ständigen Zufluss an neuen Aktivistinnen vorwiegend aus Europa, aber auch aus der ganzen Welt gewährleistet wird. Die Besonderheit ist, dass es in den Niederlanden gesetzliche Voraussetzungen für legale Besetzungen von unbenützten Leerständen gibt.2
Den Wohn-, Schaffens-, Gemeinschafts-, Ausstellungs- und Diskussionsraum selbst auszusuchen und zu bestimmen ist eine zutiefst politische Handlung, d.h. es wird nicht nur Politik gemacht, sondern auch politische Kontexte werden dementsprechend ausgeweitet. Die Kulturpolitik der Stadt Amsterdam ist sich dessen bewusst, betreibt dennoch (oder gerade deswegen) einen systematischen Abbau dieser Orte. Seit rund zehn Jahren bietet die Stadt Amsterdam eine Alternative – zur Linderung des Verlusts von Arbeits- und Schaffensräume für Kulturarbeiterinnen durch den Abbau von besetzten Häusern – die sich „cultuur broedplaats” nennt. Dass selbstbestimmte, kollektiv beschlossene, sich dauernd verändernde Formen des Zusammenlebens gerade Künstlerinnen und Kulturarbeiterinnen ansprechen, führte dazu, dass vor allem seit den 1960er die Kulturszene zu einem beträchtlichen Teil aus selbstorganisierten Strukturen hervorgeht. Dies bleibt nicht unbemerkt vom Kunst- und Kulturpublikum der Stadt, da es sich schnell herumspricht (bzw. in diversen Medien angekündigt wird), wenn neue Orte eröffnet oder geräumt werden. Das breit gefächerte Angebot für Bewohnerinnen und Nachbarinnen der besetzten Zentren reicht von selbstorganisier¬ten Kinderkrippen, vegetarischen Restaurants, Fahrradwerkstätten, Werkzeugverleih, Theater oder Streichelzoos für Kinder. Dazu kommen unzählige Möglichkeiten, die eigene freie Räume bieten – ganz im Sinne der alter¬nativen, kapitalismuskritischen, utopischen bzw. anarchistischen Kultur vieler besetzter Projekte – so hat beinahe jedes Zentrum einen Info- und/oder Kostnixladen, Café oder Restaurant, Mehrzweckräume für Veranstaltungen, Feste, Treffen, Performances, Kon¬zerte, Filme, Ausstellungen usw. Sie ziehen auch unterschiedliche Menschen an, von Universitätsprofessorinnen zu Obdachlosen, von Alleinerzieherinnen zu jungen Asylantinnen. Die antikapitalistischen Strukturen ermöglichen es allen, die Kultur- und Community-Events gratis bzw. zum Selbstkostenbeitrag zu besuchen.
Seit dem goldenen Zeitalter im 17. Jahrhundert ist Amsterdam eine Art Drehscheibe, gekennzeichnet durch ein ständiges Kommen und Gehen, durch große Pläne zur Ausbreitung der kolonialen (Welt-)Warenmärkte und als ein Umschlagplatz für Kauf- und Handelsleute. Die Anhäufung von Eigentum – seien es Waren, Prestigegüter oder Herrenhäuser entlang der reichsten Kanäle der Stadt – ist heute noch eine eingefleischte Praxis, hier im Herzen des kapitalistischen Gedankenguts. Im Gegenzug findet die soziale Empörung über den ‚freien’ Immobilienmarkt, auf dem Wohnen und Mieten (u.a. von Kunst- und Kulturräumen) unerschwinglich ist, Aus¬druck u.a. in der Hausbesetzerinnenbewe¬gung (Kraakbeweging). Das soziale Geflecht dieser Bewegung ist so vielfältig wie die Orte, die sie hervorbringt. Eine der neueren Selbstbezeichnungen von solchen DiY-Räumen, die für die Kunst- und Kulturarbeit Amsterdam relevant ist, ist der vrijplaats (Freiraum). Der Begriff selbst stammt von den Praktizierenden und bezeichnet u.a. Räume, die eng mit der Entfaltung von Experimenten als sozialen Utopien verknüpft sind, welche mittels kreativer und künstlerischer Tätigkeiten umgesetzt werden. An diesen Orten werden nicht nur Formen der Wohn- und die Gemeinschaftsräume erarbeitet und erprobt, sondern auch zu einem großen Teil Politik gemacht. Vrijplaatsen sind eindeutig Orte der (gesellschafts-)kritischen, aktivistischen, politischen Kunst- und Kulturarbeit, d.h. auch Räume für Auseinandersetzungen und Diskussionen/Diskurse.
Neben Raum ist auch Zeit ein wichtiger Aspekt, der die Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Raum-, Veranstaltungs- und Lebenskonzepte mitbestimmt. Denn besetzte Häuser, auch wenn sie laut Gesetz bis zum Ende einer Verhandlung, bei denen ein Urteilsspruch zu Ungunsten der Hausbesetzerinnen ausgesprochen wird, legal bewohnt werden dürfen, sind im Grunde zum Großteil kurzzeitig, kurzlebig, d.h. nicht von Stabilität und langfristigen Vorhaben geprägt. So entsteht ein großer Drang von den Gestalterinnen, die Räume sofort bezugs- und veranstaltungsfertig zu machen, sodass ihre Vorstellungen für die Nutzung der Leerstände verwirklicht werden können. Unheimliche kollektive Anstrengungen werden unternommen, um Häuser schnell einzurichten. Dies wird auch aufgrund der starken Netzwerke der Szene möglich, die gegenseitige infrastrukturelle Unterstützung bietet. So finden oftmals Festivals kurz nach einer Besetzung in provisorischen, dennoch liebevoll eingerichteten Räumen statt, wie z.B. Queeruption 2004 in Pakhuis Afrika entlang des Ij Ufers. Das zentrumsnahe Gebiet entlang dem großen Wasser ist seit Mitte der 1990er Hauptzielgebiet der kulturellen Stadterneuerung (Gentrifizierung) und hat den größten Verlust besetzter Häuser (d.h. Kulturzentren) für die Communities in der Nähe des Zentrums erlitten. Jedoch wurde das Abhandenkommen der vielfältigen und vor allem leistbaren Kulturangebote, Restaurants, Werkstätten usw. bei der allgemeinen Bevölkerung nicht goutiert, und auch sie machte der Stadt Amsterdam Druck, die Angebote und Räume weiterhin zu ermöglichen. Dies zeigte sich als ein gün¬stiger Zeitpunkt für die Hausbesetzerinnen-Szene, selbst mit der Stadt in Verhandlung zu treten, um Räume zu sichern.3 Die Stadt hatte den Ausbau des Ij Ufers als zentral gelegene Wohn- und Kulturmeile zu etablieren geplant und aufgrund des Interesses von zahlungskräftigen Bauunternehmen und Investoren konzipiert. Neue Siedlungen für die mittlere Oberschicht und neuartige Hochglanz-Eigentumswohnungen entstanden u.a. aus den alten Speichern der Frachtschiffe aus der Kolonialzeit,4 wie dem Pakhuis Afrika und De Zwijger.5
Dem sozialen Druck nachkommend stellte die Stadt Amsterdam 1998 den ‚Broedplaatsbeleid’ (eine Kunst- und Kulturbestimmung der Stadt) vor, der ein (begrenztes) Budget für neue, wenn auch befristete Atelier- bzw. Wohn- und Arbeitsräume für Kunst und Kulturarbeiterinnen bereit stellt. Das Motto dieser Kunst- und Kulturbestimmung der Stadt lautet „Keine Kultur ohne Subkultur,” das sich zum Ziel setzt „dafür zu sorgen, dass kleinere Infrastrukturen für (überwiegend) nichtkommerzielle Kulturarbeit realisiert werden – darunter auch diejenigen, die semiprofessionell als Künstlerinnen arbeiten – und die Bedingungen für eine dauerhafte Instandhaltung der dazu notwendigen Infrastrukturen in der Stadt zu schaffen.” (Geen Cultuur zonder Subcultuur, 2000). Diese Zielsetzung deutet darauf hin, dass es sich um die Unterstützung von „Nachwuchskünstlerinnen und –kulturarbeiterinnen” handelt. Dies wird noch etwas deutlicher in der Formulierung bezüglich der Zielgruppe: „individuelle bildende und angewandte semi-professionelle Künstlerinnen zur Ermöglichung der Kunstproduktion; Gruppen, überwiegend von Kulturarbeiterinnen (darunter Künstlerinnen, handwerkliche Betriebe, Dienstgeberinnen und Technikerinnen) mit dem Augenmerk auf ein Zusammenleben und –arbeiten, um Synergien und gegenseitige Befruchtung zu bewirken, die Teil einer Subkultur mit einer eigenen Ökonomie sind und die nicht vordergründig auf kommerziellen Erfolg abzielt.”6 Diese sehr genaue Definition engt den Handlungsraum maßgeblich ein, anstatt den vrijplaatsen Raum für die Fortsetzung oder Weiterentwicklung ihrer Projekte zu ermöglichen. Der Ruf nach weiteren Legalisierungen von existierenden (bzw. kürzlich geräumten) Orten der „Subkultur” stößt auf taube Ohren. Stattdessen wurden und werden immer mehr Wohn- und Arbeitsräume und Ateliers von der Stadt Amsterdam im kleinen Rahmen und im kontrollierten Ausmaß teilweise gefördert, um dann als Erfolgsgeschichte der Stadt Amsterdam verkauft zu werden. Die Stadt kann daher behaupten, dass sie die neuen Bedürfnisse nach Arbeitsplätzen in den „cultural industries” mit dieser Maßnahme befriedigt und gleichzeitig die Flucht der jun¬gen Künstlerinnen und Kulturarbeiterinnen (direkt nach einer teuren Ausbildung in diesen Bereichen) aus der unleistbaren Stadt unterbindet, indem Schaffensbedingungen speziell für diese Zielgruppe geboten werden. Einer der Hauptkritikpunkte an dem Modell ist, dass die Trägerinnen von alternativen Subkulturen nicht nur Künstlerinnen und Kulturarbeiterinnen ausmachen.7 Wie eingangs erwähnt, sind diese Orte der Kultur nicht von der sozialpolitischen Bewegung zu trennen, aus der sie hervorgegangen sind. Aktivismus, Input, Erprobung, Diskussion und Erneuerung sind von Menschen mit diversesten Hintergründen, Fähigkeiten und Interessen geprägt, nicht nur von Kunst- und Kulturproduzentinnen, die trotz geförderter Studios sich kaum selbst erhalten können. Ressourcen für kommunale Aspekte, die in den Hausbesetzerinnen-Kontexten immer Teil der „Kultur” sind, bleiben den Produzentinnen des hippen Amsterdam-Images am Ende des Tages keine übrig. Mehr Politur, weniger Politik …
1 Vgl. The Production of Space. Lefebvre, Henri. Trans. Donald Nicholson-Smith, 2004 [1974]; Lewitzky, Uwe. Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. transcript verlag 2005.
2 Das Handbuch für Hausbesetzerinnen von den Kraakspreekuur Kollektiven: die Korte kraak handleiding (2005) enthält ausführliche, praxisorientierte Information zu den Gesetzen. http://squat.net/kraakhandleiding/engl.txt
3 Eine Regelung in den 1980ern ermöglichte einigen Besetzerinnen-Kollektiven den Ankauf ihrer Häuser zu ”günstigeren” Bedingungen. Dadurch entstand eine Reihe von Räumen, die von Hausbesetzerinnen verwaltet und gestaltet werden. Vgl. Erik Duivenvoorden. Een voet tussen de deur. Geschiedenis van de Kraakbeweging 1964-1999. Amsterdam/Antwerpen: Arbeiderspers, 2000.
4 Hinweise der Bauträger auf die Kolonialzeit sind mehr romantisierend, als dass sie ein kritisches Auge auf die Geschichte werfen. In der Hausbesetzerinnen-Szene spielen die Geschichte der eigenen Räume und Themen wie Migration, Globalisierung und Kritiken an der ”Kolonialromantik” eine große Rolle.
5 Heute ist De Zwijger Kulturzentrum für Neue Medien. Nichts an der glatten Oberfläche des Gebäudes erinnert an die prekären Wohn- und Arbeitsverhältnisse zur Zeit der Besetzung oder an die Gewalt der Kolonialzeit. (http://www.dezwijger.nl/?nid=184) Die Stadt Amsterdam verkaufte u.a. die Arbeits- und Wohnplätze der Besetzerinnen der Kalenderpanden am Entrepotdok im Zentrum Amsterdams, um einem Großunternehmen den Bau von 47 Luxuswohnungen und Privatparkplätzen zu ermöglichen. Die Stadt Amsterdam bot den Bewohnerinnen als Ersatz dafür eine auf fünf Jahre befristete Nutzung einer Lagerhalle fernab vom Zentrum ohne Wohngenehmigung. Stellungnahme der Bewohnerinnen auf:http://squat.net/entrepotdok/engels.htm
6 Siehe: Geen cultuur zonder Subcultuur. Plan van aanpak Broedplaats, 2000, S. 3
7 Siehe dazu: Pieterse, Josien. ”Vrijplaats of broedplaats?” in Kunstenaarswijzer nr. 35, voorjaar 2002, S. 4-7; McKay, George »DiY Culture« London/NY, 1998; Pieterse, Josien ”De levesloop van een ideal. De genderpolitiek van de Kraakbeweging versus het Amsterdamse broedplaatsbeleid.” Tijdschrift voor Genderstudies, 2005–3, S. 49-58.
Erika Doucette ist Übersetzerin und Aktivistin zwischen Wien und Amsterdam.