Bourdieu und die Bestie in mir

Carmen Pilz zum Thema „Habitus und Gender in den ‚feinen Unterschieden‘ Pierre Bourdieus.

 

Zwei Belange seien klargestellt: Bourdieu ist von uns gegangen und damit haben wir den größten zeitgenössischen Soziologen und Philosophen verloren, R.I.P. Eher unbekannt ist, dass er sich in den „Feinen Unterschieden“ schon in den 70er Jahren den Macht- und Hierarchieverhältnissen zwischen den Geschlechtern widmete. Fehlte damals der Begriff, würde man heute wohl „gender-studies“ dazu sagen.

Sie haben alle ihre zur Verfügung stehenden Kapitalien investiert, um ein Orchideenstudium zu absolvieren? Der Applaus der Verwandtschaft darüber war größer als die Chancen jetzt bei der Jobvermittlung? Die „gute Partie“ lässt auch noch auf sich warten? Sie finden alles an ihnen zu groß, die Brüste, den Po, die Füße und auch ihre Vagina? Bei Konkurrenz und Konflikten flüchten Sie lieber gleich in ihre WG im Mühlviertel? Sie wollten eine Führungsposition und haben es im Sozial- und Kulturbereich zu einer „office managerin“ gebracht? Sie sind zwar von der unternehmerischen Macht abgetrennt, erleben aber das kreative und ästhetische Ausstaffieren der sie umgebenden Existenzen durchaus als Entschädigung? Dabei scheiterte es aber nicht an ihren Qualifikationen, sondern sie mussten sich von dem „Wunder der wechselseitigen Auswahl“, das im old-boys-network wirkt, überzeugen lassen? Sie lieben noch immer den Schweinebraten, obwohl ihr neues Kollegium sich distinktiv vegetarisch oder diätisch ernährt? Sie können bei zwei der Fragestellungen zustimmen? Dann lesen sie weiter und begleiten sie mich in die eigentümliche Analysewelt des Pierre Bourdieu.

Das Konzept des Gender bei Bourdieu ist unmittelbar mit dem Konzept des Habitus verbunden. So ist Gender ebenso unbewusst, vorreflexiv, einverleibt; Es gibt männliche und weibliche Denk- Handlungs- und Wahrnehmungsweisen, die wiederum abhängig sind von den objektiven ökonomischen Bedingungen, aus der sie hervorgegangen sind. Was die Genderforschung in den 80er und 90er Jahren leistete, tat Bourdieu schon 10 Jahre zuvor: Es gibt keinen monolithischen Einheitsblock „die Männer“ und keinen Einheitsblock „die Frauen“. Was heißt das für die Alltagspraxis? Gender ist zwar always und everywhere, ist aber nicht für alle Frauen gleich relevant. Was hat eine türkische Arbeiterin mit einer FPÖ-Politikerin gemeinsam? Was hat eine österreichische Pensionistin mit einer aus Ungarn stammenden Sexarbeiterin gemeinsam? Wie verhält es sich mit der weißen, älteren Akademikerin, die sich einen jungen afrikanischen Lover-boy „hält“?

Durch das Aufzeigen der Komplexität von Unterdrückungsmechanismen (soziale AkteurInnen werden wegen ihrem Geschlecht, ihrer Schichtzugehörigkeit, ihrer Ethnizität, ihres Alters und wegen ihrer sexuellen Orientierung unterdrückt) müssen wir uns auch von der Tradition “ die Männer unterdrücken die Frauen“ – Mentalität verabschieden. Repression, Widerstand und Unterdrückung sind nicht immer „außen“ zu finden, sie sitzen tief in unserem Fleisch. Manchmal wünschte ich mir, die Welt würde so funktionieren, da gibt es jemanden, der, jedes Mal wenn ich aufbegehre, mich wieder niederdrückt. Dann wäre es wenigstens klar, wer der Feind ist. Aber Bourdieus Gender-Konzept gemäß sitzt da noch so eine Feindin in mir selber drin – in Form der in meiner Kindheit verinnerlichten, einverleibten kleinbürgerlichen Werte und Dispositionen. Diese kleine einverleibte Bestie, die mich an meinen Schweinebraten bindet, die mich in Konfliktsituationen katholisch reagieren lässt, die mich bei neuen Herausforderungen feig und gehemmt agieren lässt, die mich meiner Bildungsbeflissenheit ausliefert.

Durch diesen Aspekt der Einverleibung sitzen in den Tiefen unseres Unterbewussten Vorstellungen von der Wechselbeziehung zwischen den Geschlechtern und von der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Dem gemäß ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern keine Naturkategorie, sondern sozial konstruiert, wobei die verschiedenen Klassen (Bourdieu geht prinzipiell von 3 Klassen aus: Oberschicht-Mittelschicht-Unterschicht) jeweils unterschiedliche Praxen und Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis konstruieren. Was für die Mittelschichtfrau ein Macho, ist für eine Frau aus den unteren Schichten der klasse „Habera“ mit Beschützerinstinkt. Unüberwindbare Gräben reißen hier auf.

Wie ist aber eine „Umwertung der Werte“ möglich? Dazu mehr das nächste Mal. Vielleicht.

Carmen Pilz

Pilz, Carmen: „Habitus und Gender in den ‚Feinen Unterschieden‘ Pierre Bourdieus“; Diplomarbeit, Uni Linz, 2001