Das Linzer Stadtarchiv stellt sich der NS-Zeit, erzählt uns Andi Wahl
Das Archiv der Stadt Linz hat viel um die Ohren. Es gilt nicht nur alles (selbst den E-Mail-Verkehr des Herrn Bürgermeisters) zu archivieren, sondern es müssen auch laufend Anfragen schnell und korrekt beantwortet werden. Wenn diese Arbeiten (und noch einiges mehr) ordentlich erledigt werden, dann könnte man schon mehr als zufrieden mit den dort werkelnden Damen und Herren sein. Das Archiv der Stadt Linz leistet aber mehr.
Gestützt auf einen Gemeinderatsbeschluss aus 1996, die Zeit des Nationalsozialismus inklusive der Vorgeschichte und der Entnazifizierung umfassend wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, entfaltete das Archiv eine rege Tätigkeit in dieser Angelegenheit. Kernstück dieser Arbeit ist die Herausgabe einer Reihe von wissenschaftlichen Sammelbänden zum Themenbereich Nationalsozialismus in Linz die auch den Leseansprüchen interessierter Laien gerecht werden. Kürzlich ist nun die fünfte und letzte Publikation dieser Reihe der Öffentlichkeit vorgestellt worden.
Der nun vorgelegte Band „Entnazifizierung im regionalen Vergleich“ geht weit über Linz hinaus und bietet, neben allgemeinen Informationen über Entnazifizierung, detailreiche Beiträge über die Praktiken in den österreichischen Bundesländern, sowie den deutschen Ländern Baden, Bayern und Württemberg-Hohenzollern. Eine weitere Beitragsgruppe beleuchtet die unterschiedlichen Entnazifizierungs-Politiken der vier Befreiungs- und Besatzungsmächte und deren Veränderungen (je nach eigenen innenpolitischen Erfordernissen, bzw. dem Stand des Kalten Krieges). Interessant auch die unterschiedlichen Maßstäbe, die an Österreich und Deutschland angelegt wurden. Während die Sowjetunion in ihrer deutschen Besatzungszone die Entnazifizierung als Mittel der sozialrevolutionären Umgestaltung der Gesellschaft nützte, reduzierte sie ihre Rolle im Prozess der Entnazifizierung in ihrer österreichischen Besatzungszone auf jene der Mediatorin. Frankreich (das zweite Land mit eigenen politischen Säuberungserfahrungen) praktizierte in Süddeutschland eine Entnazifizierung im Sinne der im eigenen Land angewandten auto-épuration (Selbstreinigung), in Österreich arbeitete sie direkt mit den dortigen Zivilverwaltungen zusammen. England und die USA hingegen folgten sowohl in Deutschland als auch in Österreich dem Credo des Elitenaustausches ? scheiterten jedoch an der Realität.
Das vorliegende Buch bietet mehr als eine Zusammenschau der aktuellen Forschungsergebnisse. In vielen Bereichen (wie etwa der Situation in Wien, Burgenland und Kärnten) kommt durch diese Publikation neues wissenschaftliches Material in die Forschung. Damit werden (wie bereits mit vorhergegangenen Publikationen) österreichweit Standards gesetzt. Mit seiner Publikationsreihe hat das Archiv der Stadt Linz das wissenschaftliche Rückgrat der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Linz (und darüber hinaus) geschaffen, und wird auch nicht müde, durch Kurzfassungen im Netz (unter: www.linz.at) sowie einer nun schon mehrjährigen Veranstaltungsreihe (in Zusammenarbeit mit der VHS) die Ergebnisse zu „popularisieren“.
Damit hat das Archiv einen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Linz geleistet, dessen Wert wohl vielen erst in den kommenden Jahren bewusst werden wird. Ohne diese Grundlagenarbeit hätte Linz wohl auch nicht die Stirn, sich als Kulturhauptstadt für 2009 zu bewerben. Zu hoffen bleibt, dass sich die Stadtpolitik nun nicht auf den Lorbeeren, die man dem Archiv für seine großartige Arbeit überreichen muss, ausruhen und bei einer allfälligen „Europäischen Kulturhauptstadt Linz“ das Thema NS-Zeit aktiv angegangen wird.
Andi Wahl
PS: Glücklich die Stadt, die so ein Archiv hat.
Walter Schuster ? Wolfgang Weber (Hg): Entnazifizierung im regionalen Vergleich, (Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2002), Linz 2004, 726 S., 29 Euro